Vom Kleinkind beginnend bis zum Erwachsenen verändert sich die Art zu zeichnen. Es lassen sich aber Entwicklungsstufen beschreiben, die bei fast allen Kindern auftreten. Manchmal dauert dabei eine Phase länger oder es wird eine übersprungen. Viele Kinder entwickeln sich kontinuierlich, andere in ausgeprägten Schüben, jedes Kind setzt sich aber durch das Zeichnen auf eine individuelle Art mit der Welt auseinander, ja es ist quasi eine Verarbeitung der Umwelteindrücke.
Es ist aber nicht nur wichtiges Ausdrucksmittel, sondern auch ein Spiegel der kognitiven Prozesse, der kindlichen Wahrnehmung und des Denkens. Mit jedem Bild wird eine vollgültige Aussage gemacht, die dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes entspricht.
Die Kinderzeichnung wird aber nicht nur naturgesetzlich, sondern auch kulturell und historisch beeinflusst, zum Beispiel wurden Männer früher meist mit Hut dargestellt, die jetzt aus der Mode gekommen sind. Oder der kleine Mund in japanischen Kinderzeichnungen, weil es für japanische Frauen und heranwachsende Mädchen unschicklich galt, breit zu lachen. Meines Erachtens wird die Kinderzeichnung, vor allem ab einem gewissen Alter heute auch von Zeichentrickserien beeinflusst, beziehungsweise von den zahlreichen Bildern, die so auf die Kinder einwirken.
Die Entwicklungsphasen der Kinderzeichnung
1. Kritzelphase
Es ist wohl die direkte Umsetzung von Motorik ins Sichtbare. Das Kind entdeckt, dass der Stift Spuren hinterlässt und im sogenannten Urknäuel wird die erste Bewegungsspur aufs Blatt gebracht. Durch die Bewegung des ganzen Unterarms ohne Absetzen des Stiftes resultiert ein grobmotorisches „Schwingkritzeln“ oder der Stift wird geradezu auf das Papier gehauen („Hiebkritzeln“). Nach und nach geht die Kritzelei in eine drehende Bewegung über und die Kontrolle der Linienführung nimmt zu, wo schließlich auch die Hand- und Fingergelenke mitbeteiligt sind. Plötzlich bedeutet die Kritzelei etwas für das Kind, mit einer Darstellungsabsicht wird der Stift immer mehr in eine bestimmte Richtung bewegt und eine Beziehung zwischen Gegenstand und graphischem Zeichen entsteht.
2. Kindlicher Realismus
Er beginnt mit dem Urkreis und dem Urkreuz, aus der Kombination dieser Formen entsteht der Kopffüßler. Er ist nicht die Kopie einer realen Gestalt sondern die Wiedergabe von Personen nach der Wichtigkeit des kindlichen Erlebens, eine empfundene Realität. Das bedeutet: alles Wichtige wird groß gezeichnet, für das Kind Unwichtige oder noch nicht detailliert Wahrgenommene wird weggelassen. In Gesichtern fehlt oft die Nase, während die erlebnismäßig wichtigeren Augen und der Mund bereits vorhanden sind. Da das Kind zeichnet, was es weiß und nicht was es sieht, entstehen „Transparent- oder Röntgenbilder“ (zum Beispiel Knödel im Bauch).
Die menschliche Figur entwickelt sich immer weiter, es werden Geschlechtsunterschiede hinzugefügt, zum Beispiel Kleider. Es kommt auch zur Darstellung von Tieren, Pflanzen, Fahrzeugen und schließlich Situationen und Szenen, in denen Personen in Beziehung zueinander stehen. In diesen sogenannten Situationsbildern zeigen sich auch die ersten Profilansichten und Differenzierung der Menschen in Ausdruck und Bewegung. Sobald Dinge in Zusammenhang treten, muss auch der Bildraum organisiert werden, zum Beispiel eine waagrechte Linie als Himmel, oder eine Straße quer übers Blatt, deren Seitenbegrenzung schließlich die Standlinie für die Autos wird.
3. Visueller Realismus
Mehr und mehr wird das dargestellt, was man tatsächlich sieht, ohne intellektuelle Details hinzuzufügen. Ab einem Alter von ca. neun Jahren wird zum Beispiel beim Zeichnen eines Tisches auch die dritte Dimension berücksichtigt. Das Kind achtet auf bessere Proportionierung, perspektivische Darstellung und versucht Bewegungszusammenhänge zu erfassen. Zudem werden die gewählten Themen immer vielfältiger und das Bild wird naturalistischer. Die Möglichkeit einer realistischen Darstellung fordert Jugendliche auch zur Selbstkritik beziehungsweise Reflexion heraus.
Menschen entwickeln sich Menschen in ihren Zeichnungen qualitativ unterschiedlich, je nach Lern- und Lebensgeschichte und werden sich, falls sie eine Auseinandersetzung mit ihrer künstlerischen Fähigkeiten fortsetzen, kontinuierlich weiterentwickeln.
Der Mann-Zeichen-Test nach Hermann Ziler
Viele KinderpsychologInnen aber eben auch ErgotherapeutInnen ziehen die Kinderzeichnung als diagnostisches Hilfsmittel heran. Mit dem Testauftrag „Male einen Menschen, so gut du kannst“ werden im Mann-Zeichen-Test Punkte für die dargestellten Details vergeben. Ziler geht davon aus, dass die Anzahl der gezeichneten Körperteile und Details auf den Entwicklungsstand und die intelligenten Fähigkeiten eines Kindes schließen lassen. In den aktualisierten Bewertungskriterien gibt es 52 Punkte für eine Zeichnung zu erreichen:
- Kopf
- Kopf, nicht größer als ½ und nicht kleiner als 10/6 des Rumpfes
- Kopfhaar, angedeutet
- Kopfhaar, deutlich ausgezeichnet (zum Beispiel Kopfumrisse dürfen nicht durchschauen)
- Augen
- Pupille
- Augenbrauen
- Nase, angedeutet
- Nase, plastisch (es genügen zum Beispiel 2 Nasenlöcher)
- Mund, angedeutet
- Mund, plastisch
- Lippen, deutlich gezeichnete
- Kinn, deutlich erkennbar oder Bart
- Ohren, angedeutet
- Ohren plastisch
- Hals, angedeutet
- Hals, plastisch
- Hals, richtig verbunden
- Rumpf
- Rumpf, plastisch und länger als breit
- Schultern, deutlich erkennbar
- Arme, als Strich
- Arme, plastisch
- Arme, richtig angesetzt
- Ellbogen
- Hände, angedeutet
- Hände, deutlich ausgezeichnet
- Finger, angedeutet
- Finger, plastisch
- Finger, richtige Zahl
- Daumen, abgespreizt
- Beine
- Beine, plastisch
- Beine, richtig angesetzt
- Knie
- Füße, angedeutet
- Füße, plastisch
- Füße, mit Ferse oder Absatz
- Gesicht, en face
- Gesicht, en face, plastisch und komplett
- Gesichtsprofil
- Gesichtsprofil, plastisch und komplett
- Profilhaltung von Rumpf und Armen
- Profilhaltung von Beinen und Füßen
- Kopfbedeckung
- Kopfbedeckung mit Einzelheiten
- Körperbekleidung, angedeutet
- Hose, deutlich gezeichnet mit Einzelheiten, nicht transparent
- Rock, deutlich gezeichnet mit Einzelheiten, nicht transparent
- Kragen, deutlich gezeichnet
- Schuhe, angedeutet
- Schuhe, deutlich mit Einzelheiten.
Anhand der Punktezahl (es gibt dafür noch eine detailliertere Beschreibung), die eine Menschenzeichnung erhält, kann ein „Mann-Zeichen-Alter“ berechnet werden. Dafür wird die erreichte Punktezahl durch vier dividiert, da ein Kind, laut Ziler, pro Jahr vier neue Details entwickelt. Zu der errechneten Zahl wird 3 addiert, da ein Kind in den ersten drei Lebensjahren noch keinen Punkt der Tabelle zeichnet. Die Summe ergibt dann das Mann-Zeichen-Alter. MZA=(Punkteanzahl:4)+3
Literatur
- Der Mann-Zeichen-Test: In der detail-statistischen Auswertung nach Ziler. Hermann Ziler, 2007, Aschendorff Verlag
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Liebe Frau Hutterer,
toller Artikel !
Kann ich gut als Grundlage für meine tägliche Arbeit in der Kinderärztlichen Praxis und für meine Weiterbildungsassistentin gebrauchen.
Herzlichen Dank!
A. Hildebrandt-Grethen
Hat uns sehr im Pädiatrie-Unterricht geholfen!
Das freut uns aber auf alle Fälle – Danke für die Rückmeldung!