Ergotherapie im Web

Ein Bericht von außen – Mein Kind bei der Ergo(therapie)

Ergotherapie? Was ist das denn?

Die Lehrerin von Kind 2 meint, das sei nun geboten, denn die Schrift des Knaben sei nun wirklich nicht leserlich. (Artikelbild von Deborah Lee Soltesz via Flickr, Public Domain)

Ach nee, nicht noch ‘ne Therapie, bitte.

Auch wenn die manuelle Geschicklichkeit nicht so ausgeprägt ist – das Kind soll doch nicht den Eindruck bekommen, es sei „reparaturbedürftig“. Also schieben wir die Entscheidung vor uns her. Die Zeit mit dem Logopäden ist nun schon ein Weilchen her und wer weiß, vielleicht hätte er die verbesserte Aussprache auch ohne …?

Ein Schulhalbjahr später ist es dann doch so weit – wir haben den ersten Termin bei einer Ergotherapeutin. Schlechte Noten, obwohl es richtig ist, aber nicht zu lesen – da war der Leidensdruck dann doch zu groß.

Während eine Mitarbeiterin mit dem Kind in einen Raum geht, bleibe ich im Gespräch mit der Therapeutin zurück. Was sie alles wissen will! Die Fragen fahnden bis in die Zeit der Geburt und davor. Es war doch alles normal. Naja, gut, er kam ein bisschen früher als errechnet und war wohl wirklich recht früh – Sie verstehen: noch voller Käseschmiere. Als zweites Wickelpaket – der Große war anderthalb – lief er dann so mit, war fröhlich und friedlich, außer, wenn ich den Bruder wickelte. Das mit dem Sprechenlernen war nicht so seins – der Bruder verstand alles und spielte Dolmetscher. So süß! Der Große puzzelte nur, wenn wirklich nichts anderes da war – der Kleine gar nicht.

Ich merke gar nicht, wie ich ins Erzählen komme – und die Therapeutin notiert immer mal wieder was, hakt nach, was wieder eine kleine Geschichte nach sich zieht. Das Gespräch dauert eine Stunde.

Nun geht das Kind also einmal pro Woche „zur Ergo“

Viel erzählt er nicht. Den Begriff „Bohnenbad“ höre ich mal. Auf jeden Fall macht es ihm Spaß. Nur – mit Schreiben hat das alles nichts zu tun. Hm?

Nach einiger Zeit habe ich wieder ein Gespräch mit der Therapeutin und sie erzählt mir, was da warum passiert.

Die Unfähigkeit, sauber zu schreiben hat was mit dem Muskeltonus im gesamten Körper zu tun. Der ist im Ungleichgewicht – für Sachen, die leicht gehen können, wendet Kind 2 zu viel Kraft auf, für andere fehlt die Kraft am richtigen Ort. Stimmt, pfeifen kann er nicht. Den Mund zum Pusten zu spitzen, fällt ihm schwer, das ist schon dem Logopäden aufgefallen.

Ziel sei es nun, das Körpergefühl, die Wahrnehmung zu verbessern. Dazu dient auch das Bohnenbad – in eine Kuhle voller Bohnen zu liegen und zu spüren, wie sie sich umgruppieren, je nachdem, wie er selbst seine Lage verändert. Sie schildert mir noch mehr Sachen, die sie mit meinem Sohn veranstaltet – springen, schaukeln, balancieren.

„Aber die Schrift?“, hake ich nach

Kommt alles, beruhigt sie mich. Insgesamt geht Kind 2 fast ein Jahr lang wöchentlich zur Ergo und hat Spaß. Die Ergotherapeutin ist zufrieden, denn der Junge hat ein paar grundlegende Fortschritte gemacht. Das mit dem Schreiben – na ja, da er es nicht mag, ist die Schrift immer noch nicht so toll, aber leserlicher.

Spannend ist für mich die unterschiedliche Auffassung dessen, was Ergotherapie leisten soll: Die Lehrerin ist ganz eindeutig der Meinung, die Schrift ist das, was verbessert werden muss – Ergotherapie als Reparaturwerkstatt. Die Therapeutin dagegen schaut auf das Kind insgesamt und stellt fest, dass es sich das Leben mit seinem Körperwahrnehmungsgefühl insgesamt schwer macht und arbeitet daraufhin mit ihm. Bewegungen werden flüssiger und sicherer – eine Qualitätsverbesserung im Großen, die solche im Kleinen nach sich zieht.

Und die Schrift?

Er kann jetzt mit zehn Fingern tippen…

Vielen Dank an Heike Baller, die diesen Gastbeitrag im Rahmen der Weihnachts-Blogwichtel-Aktion des Texttreffs für mein Blog geschrieben hat. Ein großer Dank geht auch an Eva Brandecker für das tolle Foto [Update 23.01.2019: Das genannte Bild wurde im Rahmen des Redesigns 2019 entfernt, da die Datei nicht mehr in skalierbarer Form vorlag. (Markus)]. Beide sind – genau wie ich – Mitglied im Texttreff und deshalb geht, last but not least, auch ein dickes Dankeschön an den Texttreff – Das Netzwerk wortstarker Frauen, ohne das ich mir mein (Arbeits-)Leben nicht mehr vorstellen kann.

Autor*in

Silke Jäger

Silke Jäger ist Ergotherapeutin, Lektorin und Projektmanagerin und verdient ihre Brötchen als Freiberuflerin mit Texten über Rehabilitation, Therapie und Gesundheitsthemen—Website

18 Kommentare

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  • Liebe Heike,

    
deine Erfahrungen werden sicher viele Ergos interessant finden. Sie bringen nämlich ganz viele Dinge zur Sprache, die in Fachkreisen gerade diskutiert werden. Der vorherige Artikel von Gabriele Voigt-Papke thematisiert das Ganze aus ergotherapeutischer Sicht. Wer reinlesen mag

    Vielen Dank für Deinen schönen Bericht!

  • Liebe Silke,


    es hat mir viel Freude gemacht. Und so aus der Distanz sieht man die Sachen ja auch entspannter … Auch Kind 2 kommt in der Schule klar. Und hat letztes Jahr bei jeder sich bietenden Gelegenheit Geschichten verschenkt – getippt, versteht sich.

  • Liebe Heike,

    
ich finde, da hast du auch eine tolle “Checkliste” geschrieben, was eine gute Ergotherapeutin ausmacht. Ihr scheint wirklich eine solche gefunden zu haben – eine, die sich Zeit nimmt, eine die Eltern und Kinder ernst nimmt, eine, die ganzheitlich arbeitet. Was ich so höre, gibt es wohl nicht immer so Glücksfälle.

  • Schöner Bericht, Heike, sehr plastisch. Ergo haben wir mit den Kindern ausgelassen, obwohl, vielleicht wär das gar nicht schlecht gewesen … Aber zur Logopädie könnte ich auch ein paar nette Anekdoten beisteuern. Jedenfalls hat meine Tochter heute noch einen leichten Sigmatismus und mein Sohn eine Schrift wie ein Viertklässler und auch sonst sind sie noch heute ziemlich therapieresistent …

  • Interessanter Beitrag!

    
Eines meiner Kinder hatte auch Ergotherapie, die jedoch im wesentlichen darin bestand, dass ich zu Hause Schwungübungen (Achten natürlich, aber auch anderes) machen sollte. Bohnenbad kam allerdings auch vor.
Nach einem Vierteljahr schlug die Therapeutin vor, mein Kind von der Theapie zu erlösen, da er a) kaum Fortschritte machte und b) genau das Gefühl hatte, dass mit ihm was nicht in Ordnung sei, was repariert werden müsse. Ich war sehr froh, dass der Vorschlag von der Therapeutin kam – so hatte ich etwas in der Hand, was ich den Lehrern sagen konnte, die uns praktisch zur Therapie gezwungen hatten.
DIe Schrift – vergessen wir es. Mit LRS hat das Kind genug zu tun. Aber nicht mehr lange, dann ist die Schule eh (endlich!) Geschichte, dann kräht kein Hahn mehr nach dem Schriftbild. Aber da wir den Druck herausgenommen hatten, ist endlich die Schreibphobie überwunden, die mittlerweile entstanden war.


    Schöner Beitrag, Heike!

  • Da ich ja sonst eher der zuarbeitenden Zunft im schreibenden Bereich angehöre, ist es für mich sehr sehr erfreulich, für meinen Beitrag hier so viel positive Rückmeldung zu bekommen. Ihr macht mir Mut! Danke!

  • Ein sehr interessanter, sehr aufschlußreicher Beitrag, der es wert ist kommentiert zu werden, da darin einige für die landläufige deutsche pädiatrische Ergotherapie typische Dinge beschrieben werden.

    Es gibt recht selten die Gelegenheit, die ehrliche, ungeschminkte Meinung aus der Elternsicht zu erfahren.
Ich erlaube mir deshalb mal ganz und gar offene Stellungnahmen….
Im Einzelnen: 
“Ergotherapie? Was ist das denn?”
Kein Wunder, dass Frau Baller wie viele andere Menschen auch, nicht weiß, was Ergotherapie ist. Das liegt unter Anderem daran, dass Ergotherapeuten auch gar nicht an einem klaren Berufsprofil gelegen ist. Denn sie wählen häufig ihren Beruf mehr oder minder intuitiv. Und eines haben sie gemeinsam: sie sind alle gut darin, die Stimmungen von anderen Menschen zu regulieren (Ergotherapeuten sind so gut wie immer “nett” und “zugewandt” und “unterstützend”.) Und sie bieten ihren Patienten bevorzugt das an, was auch ihnen selbst Freude macht bzw. was sie kennen.

    Viele Menschen brauchen Routinen. Ergotherapeuten auch.
Wenn Sie also 50 Ergotherapeuten fragen, was Ergotherapie ist, werden Sie 50 verschiedene Antworten bekommen. Von “Verbesserung der Wahrnehmung” bis “Verbesserung der Handfunktion”.
Fragen Sie dagegen Patienten oder Angehörige werden meistens Maßnahmen beschrieben: “Irgendwas mit einer Schaukel”, “die basteln mit meinem Kind” oder “die machen da so Schreibübungen”. 
“Ach nee, nicht noch ‘ne Therapie, bitte. Auch wenn die manuelle Geschicklichkeit nicht so ausgeprägt ist – das Kind soll doch nicht den Eindruck bekommen, es sei „reparaturbedürftig“. Also schieben wir die Entscheidung vor uns her.”
Das ist eine verbreitete Reaktion. Vor allem wenn die Eltern sich in den Schwierigkeiten des Kindes wiedererkennen. Bei manchen werden dann unangenehme Erinnerungen aus der Kindheit wach, was Abwehr- bzw. Beschwichtigungsreaktionen auslöst. Nicht umsonst gibt es das Sprichwort “der Apfel fällt nicht weit vom Stamm”.
Andere Eltern wollen eben gerade dies vermeiden: dass das Kind eine ähnliche Entwicklung nimmt wie sie, gleiche Erfahrungen machen muss, an vergleichbaren Dingen scheitert und die holen sich sozusagen schon prophylaktisch Hilfe.
Eltern sind eben unterschiedlich in ihrem Selbstbild, ihren Ansichten und Lösungsstrategien. 
Was auch häufiger vorkommt ist, dass die Eltern uneingestandene bzw. verdrängte Schuldgefühle haben. Das reicht von “hätte ich doch lieber, als ich ahnte, dass ich schwanger bin, auf der Hochzeit nicht so viel trinken sollen, wer weiß, ob das bei Mäxchen nicht Schäden hinterlassen hat…” bis hin zu “ich glaube ich hatte doch eine Depression damals als Lisa ein Baby war, warum habe ich mir keine Hilfe geholt” oder “hoffentlich merken die nicht, dass Jonas zuhause fast nur vor dem Computer sitzt..”. 
“Die Zeit mit dem Logopäden ist nun schon ein Weilchen her und wer weiß, vielleicht hätte er die verbesserte Aussprache auch ohne …?”
Nicht nur Ergotherapeuten versäumen es, Therapieziele, Maßnahmen und Erfolge miteinander in Beziehung zu setzen und die Angehörigen einzubeziehen. Das Argument “das verwächst sich bzw. das lernen die Kinder sowieso” ist auch bei den immer noch üblichen langen Behandlungszeiten nicht von der Hand zu weisen.
“Verbesserung von X, Y und Z”… wenn das Ziel der Therapie im Ton einer politischen Absichtserklärung formuliert wird, dann hat es auch ungefähr deren Verbindlichkeit….und auch das hat im Therapiewesen Methode. Wenn ich selbst nicht von meiner Arbeit wirklich überzeugt bin, dann werde ich Eines auf jeden Fall vermeiden: Klare Überprüfbarkeit der Wirksamkeit meiner Maßnahmen. 
Diese Einstellung eint übrigens das gesamte Medizinwesen! Ärzte auch!!!
“Viel erzählt er nicht. Den Begriff „Bohnenbad“ höre ich mal. Auf jeden Fall macht es ihm Spaß. Nur – mit Schreiben hat das alles nichts zu tun. Hm?”
Diese Gedanken sind nur folgerichtig. Es geht bei solcher Art “Behandlung” auch nicht darum, dass sich etwas Konkretes verändert, sondern dass sich das Kind wohl fühlt und die Therapeutin nicht all zu viel Streß hat (siehe oben). Deshalb sind Sie auch nicht zugegen während der Therapie. Sie könnten sich ja sonst Gedanken machen oder noch schlimmer: kritische Fragen stellen….

    
Ganz im Ernst: verantwortungsvolle Therapeuten beziehen die Eltern in die Therapie mit ein. Und begleiten die Übertragung des innerhalb der Therapie erreichten in den häuslichen und schulischen Alltag. Dabei geht es keineswegs darum den Eltern “Hausaufgaben” zu geben, sondern sie zu beraten und anzuleiten, wie sie ihr Kind fortan noch besser und effektiver im gewohnten Alltag unterstützen können. So werden die schnellsten und nachhaltigsten Fortschritte gemacht. Bevor das Kind sich als defizitär erlebt und abblockt. 
“Ziel sei es nun, das Körpergefühl, die Wahrnehmung zu verbessern”
Das klingt doch gut, wer sollte schon was dagegen haben?
Und: die Eltern tun was “Wichtiges”, haben das Gefühl “sich zu kümmern” und alles was sie dazu tun müssen, ist ihr Kind regelmässig zur Ergotherapiestunde abzuliefern. Okay, ab und an der Therapeutin dabei zuhören, wie sie schildert, welch bedeutsame Maßnahmen Bohnenbad, Rollenrutsche, Rasierschaummatschen, Rollbrett fahren, Balancierbalken, mit Sandsäcken belegt werden, Trampolin springen, Wahrnehmungsparcours… usw. sind.
Habe ich in der Aufzählung noch was vergessen?


    “Kommt alles, beruhigt sie mich. Insgesamt geht Kind 2 fast ein Jahr lang wöchentlich zur Ergo und hat Spaß. Die Ergotherapeutin ist zufrieden, denn der Junge hat ein paar grundlegende Fortschritte gemacht. Das mit dem Schreiben – na ja, da er es nicht mag, ist die Schrift immer noch nicht so toll, aber leserlicher.”
Frau Baller: So wie Sie Ihren Sohn beschreiben ist er ja ein pfiffiges, aufgeschlossenes Kerlchen. Warum sollte er da nicht innerhalb eines Jahres besser schreiben lernen? Nur ob die Ergotherapie mit seinen Fortschritten zu tun hat oder ob die nicht ganz von allein auch eingetreten wären – diese Frage stellen sich nicht nur wir hier – sondern ganz besonders die verordnenden Kinderärzte, die ihr Heilmittelbudget und damit viel Ärger riskieren und auch die Kostenträger. Vielleicht haben Sie schon mal von der Regressproblematik gehört?

    
Die mitunter ganz schön abwertende Skepsis dieser Gruppen gegenüber der derzeit noch üblichen Ergotherapie kann ich gut nachvollziehen. Gerade weil ich selbst seit 25 Jahren Ergotherapeutin bin. Und in verschiedenen Fachbereichen arbeite. 
Selbst wenn Ihr Sohn neben seiner feinmotorischen auch grobmotorische Probleme hat bzw. hatte: es ist in den seltensten Fällen eine Behandlung von mehr als 30 Einheiten in Folge nötig.
Wenn wie gesagt spezifisch gearbeitet wird. An und mit den konkreten Problemen im Alltag und unter Einbezug des Umfeldes, also der Eltern und der Schule. Es kann sein, dass eine Wiederholung der Therapie angezeigt ist, wenn die Anforderungen sich grundlegend verändern, z.B. wenn Leistungsnormen erhöht werden. Aber das ist meist nur bei komplexeren Problematiken nötig. 
“Das mit dem Schreiben – na ja, da er es nicht mag, ist die Schrift immer noch nicht so toll, aber leserlicher.”
Ja, warum mag Ihr Sohn das Schreiben nicht: weil er es nicht gut kann. Kinder verlieren gewöhnlich das Interesse und die Lust an Dingen, die sie nur unzureichend beherrschen. Dabei können sie gerade an der Bewältigung von Schwierigkeiten wachsen. Gut begleitet lernen sie dabei, wie sie auch andere schwierige Dinge leichter erlernen können. Und dass Anstrengung sich lohnt. Im Leben geht es nicht immer nach dem “Lust-Prinzip”. Man muss auch mal Durststrecken überwinden und sich mit Dingen beschäftigen, die keinen “Spaß” machen. Und vielleicht gerade dabei ganz neue Erfahrungen machen. 
So entsteht das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Eine ganz wichtige Voraussetzung für ein aktives, erfolgreiches Leben. 
Das gilt auch für die Eltern von Therapiekindern. Nachhaltig angeleitet und begleitet kann sich auch bei ihnen ein sehr positiver Effekt durch die ergotherapeutische Behandlung des Kindes einstellen.

    Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles Gute!


    Angelika Oetken, Ergotherapeutin, Berlin-Köpenick


  • Liebe Frau Oetken,


    herzlichen Dank für Ihre ausführliche Rückmeldung. 
Mein Problem mit der ganzen Therapiererei ist ja, dass nach meinem Eindruck einem langsameren Kind nicht sein Tempo gelassen wird – v. a. in der Schule. In Zeiten von G8 wohl auch nicht gelassen werden kann. Mein Kind hatte sicher feinmotorische Probleme und der Frust war groß, dass Erfolge dann doch keine waren. Und sicher ist eine gute Begleitung – ergortherapeutisch oder logopädisch oder was weiß ich – eine sinnvolle Sache. Aber manche Kinder brauchen halt einfach was länger. Mein Kind ist ein pfiffiges Kerlchen, ja. Er liest viel, spielt ein Instrument, singt im Chor, rudert, hat verschiedene andere Sportarten ausprobiert und ist bei den Pfadfindern; er lernt mit Begeisterung kochen und backen. Und ist in der Schule nicht die ganz große Leuchte. So what. Er ist einfach nur großartig, so wie er ist. Und sein Lerntempo ist sein Lerntempo. Wir unterstützen ihn so gut wie möglich. Und lassen ihm den Freiraum, den er unserer Einschätzung nach braucht. Zum Bereich Unterstützung gehörte auch die Zeit der Ergotherapie. Dazu gehört jetzt Vokabellernbeistand und Lob, wenn was gelaufen ist – egal ob Schule oder Hobby oder einfach nur, weil er ein freundlicher, aufgeschlossener junger Mensch ist, den wir lieben.

    
Du liebe Güte, das ist ja jetzt sehr emotional geworden – aber ich lass es mal so stehen.
Herzliche Grüße
HBaller

    • Liebe Frau Baller, 
nach einem turbulenten Jahresanfang habe ich nun wieder etwas Zeit, mich wieder an diesem sehr interessanten Austausch zu beteiligen.

      
Sie sprechen etwas Wichtiges an, nämlich wer welche Maßstäbe an Kinder anlegt. 
Meiner Erfahrung nach, sollten die Möglichkeiten der Kinder und die Struktur und die Inhalte des Unterrichts aufeinander abgestimmt werden. Viele Schulen schaffen das, andere wiederum nicht. In Zeiten großer Geburtenrückgänge wird sich hier Spreu von Weizen trennen. 
Was Therapiebedarf angeht, gibt es auch eine weit verbreitete Fehlannahme, nämlich, dass ein so genanntes “Defizit” automatisch eine therapeutische Intervention nach sich ziehen muss. 
Das ist nicht so, nicht mal formal. 
Der Arzt, der ein Heilmittel wie Ergotherapie, Logopädie oder Physiotherapie verordnet, hat nämlich eine “Indikation” (zu deutsch “Anzeige”) zu stellen. D.h. im Falle von Ergotherapie, dass er feststellen muss, dass durch eine Funktionseinschränkung eine Beeinträchtigung der Aktivitäten des Kindes vorliegt, die die Teilhabe gefährdet. Und dass die ergotherapeutische Behandlung geeignet ist, diese Aktivitäten soweit zu optimieren bzw. herbeizuführen, dass die Teilhabe wieder so gut als möglich gewährleistet ist.

      Was sich erstmal sehr theoretisch anhört, bedeutet, dass eine Funktionseinschränkung nur dann auf Kosten der Solidargemeinschaft behandelt werden darf, wenn wichtige Aktivitäten des Kindes deshalb nicht oder nur unzureichend möglich sind. Welche Bereiche da als wichtig erachtet werden, darüber gibt die Internationale Klassifikation (ICF) Auskunft. Die ICF ist eine der Grundlagen unserer Sozialgesetzgebung. Und die Sozialgesetzgebung regelt, wer was bezahlt. Und warum. 
Letztendlich die Kernfrage jeglicher Intervention. 
Für Kinder sind wesentliche Teilhabebereiche u.a. “Lernen und Wissensanwendung”, “Mobilität”, “Selbstversorgung”, “Bedeutende Lebensbereiche (hier v.a. “Erziehung/Bildung”).

      Was auf den ersten Blick kompliziert aussieht, ist eigentlich gar nicht so schwierig. Der große Vorteil ist, dass es Klarheit schafft, wenn alle Beteiligten (Arzt, Therapeut, Eltern, Umfeld und die Kinder) sich darüber einig werden, was auf jeden Fall gelernt oder erarbeitet werden sollte und wer was dazu beiträgt. 
Eine umfassende ergotherapeutische Behandlung setzt genau da an. Sie folgt einem System, das es ermöglicht, jederzeit konkrete Fortschritte zu überprüfen. D.h. nicht, dass die Therapeuten auf Erfolge festgenagelt werden – das wäre unrealistisch – aber dass die Therapeuten in der Lage sein müssen, ihre Behandlung so aufzubauen, dass auch “Laien” eine alltagsrelevante Systematik dahinter erkennen. 
“Das Kind geht gerne zur Ergotherapie, weil es Spaß macht und die Therapeutin nett ist” – das reicht nicht. Auch “Übungen zur Verbesserung der Wahrnehmung und zur Vernetzung der beiden Gehirnhälften” dürften streng genommen gar nicht finanziert werden. 
Heilmittel, die keinerlei Elternanleitung und Beratung zur Übertragung des Erlernten in den Alltag des Kindes vorsehen, sind nicht “zweckmäßig”.

      Ein Arzt kann – zumindestens theoretisch, aber zunehmend auch praktisch- von den Kostenträgern in einen Regress genommen werden, wenn er solche “Anwendungen” fortlaufend verordnet. Er ist verpflichtet, zu überprüfen, ob eine ergotherapeutische Behandlung zu Erfolgen auf der Ebene der Aktivitäten (Leitsymptomatik) führt. 
“Gefühlte” und “erhoffte” Erfolge zählen da nicht. Nur klar sicht- und überprüfbare. 
Bei uns in der Praxis kommt es häufiger vor, dass wir nach einer genauen Analyse des Betätigungsverhaltens der Kinder und der äußeren Umstände (schulische Anforderungen, mangelhafte oder auch unangemessen starke Unterstützung durch das Elternhaus) klare Empfehlungen geben, was z.B. Schulwechsel oder auch eine Klärung, was Erziehungsvorstellungen oder das Wissen um die kindliche Entwicklung angeht. Das wird im Arztbericht vermerkt und erläutert und mit den Eltern besprochen.
Wir sehen uns dabei als Anwälte der Kinder. Da es leider auch immer wieder vorkommt, dass Beteiligte es zwar “gut meinen”, es aber konkret nicht gut läuft. Und zwar für das Kind.

      Wir haben das Glück, dass die meisten unserer verordnenden Kinderärzte trotz einer sehr hohen Arbeitsbelastung sich darum immer noch und immer wieder “einen Kopf” machen. 
In den 25 Jahren, die ich aktiv als Ergotherapeutin arbeite, haben sich, was das angeht, die Anforderungen an unseren Berufsstand sehr erhöht. Immer mehr KollegInnen nehmen diese Herausforderung an und arbeiten sehr effektiv, umfassend und zielgenau. 
Ob und wann und das die Kostenträger in irgendeiner Form honorieren, das wissen wir nicht. 
Aber eines ist mir gewiss: mein Beruf hat einen Sinn und ich kann jederzeit klar begründen, was ich tue und was meine Arbeit bewirkt. 
Ob das die vielen vielen Mitarbeiter in den beteiligten Verwaltungseinrichtungen auch können weiß ich nicht. 
Vielleicht haben wir mal in naher Zukunft sogar Gelegenheit, sie dazu zu befragen. 


      Viele Grüße aus Berlin-Köpenick sendet 
Angelika Oetken

  • Liebe Angelika, auf solche Diskussionen hatte ich gehofft, als ich den Bericht von Heike Baller zugeschickt bekam. Dass dann gleich so ein ausführlicher und aufschlussreicher Kommentar darunter sein würde: klasse! Danke!


    Einen Satz aus Ihrem Kommentar will ich noch mal in den Diskussionsring werfen, weil darin mE das Kernproblem liegt:

    auch das hat im Therapiewesen Methode. Wenn ich selbst nicht von meiner Arbeit wirklich überzeugt bin, dann werde ich Eines auf jeden Fall vermeiden: Klare Überprüfbarkeit der Wirksamkeit meiner Maßnahmen.

    Mich würde mal interessieren, ob sich das nicht mittlerweile im großen Stil geändert hat. Eigentlich müsste es das ja. Genügend Instrumente zumindest stehen dafür zur Verfügung. Die Frage ist natürlich, wie sehr sie genutzt werden. Und wenn nicht, woran das dann liegt.


    An den Ausbildungsstandards? Der Anleitung in den ersten Berufsjahren? Der Fortbildungskultur? Weil es an genügend öffentlich wahrnehmbaren Vorbildern fehlt?

    
Viele Artikel in der allgemeinen Presse (ich meine nicht die Fachpresse) tragen auch nicht gerade dazu bei, dass sich die Meinung der Bevölkerung ändern kann. Da liest man von Sigmar Gabriel, der sich beim Tag der offenen Tür in der Ergo-Abteilung über Werkstücke informiert: kein Wort über die alltagsorientierte Therapie. Oder von Luftballonspielen im Altenheim: kein Wort über Validation oder Biografiearbeit. Das könnte ich jetzt ewig so fortführen. Ganz selten, dass mal irgendwo die Ergotherapie so vorgestellt wird, wie sie in ihrem wahren Kern ist, worum es ihr wirklich geht.
Da müssen einfach noch mehr Leute, die gute Arbeit leisten, das auch mal selbstbewusst nach außen tragen. So als ersten Schritt in Richtung Änderung des Meinungsbildes. Dazu würde ich jetzt hier Mut machen wollen. Denn der Bedarf ist da, wie man sieht.

  • Liebe Heike,


    da greifst du einen ganz wichtigen Punkt auf. Wer oder was therapiebedürftig ist, wird oft von der Umwelt definiert. Derjenige, um den es geht, kann natürlich wenig Motivation zur Veränderung aufbringen, wenn er unter seinem “Symptom” eigentlich nicht sonderlich leidet. Wenn sich jemand einen Arm bricht, gibt es wenig Zweifel an seiner Therapiebedürftigkeit, aber bei vielen pädiatrischen Indikationen schwingt immer die Frage mit: “Wer ist eigentlich der Klient?” Also, wer hat eigentlich ein Interesse daran, dass sich etwas verbessert. Das Kind, die Eltern, oder – wie in deinem Fall – die Lehrerin, weil sie die Schrift deines Sohnes einfach nicht lesen kann? Die Therapiebedürftigkeit ist zwar nicht per se infrage gestellt, wenn das Kind nicht diejenige Person ist, die den größten Leidensdruck hat, aber es hat Auswirkungen aufs Therapiekonzept.


    Sonst kommt eben ganz schnell die Frage nach dem Sinn der Maßnahme auf.


    Bei meinen eigenen Kindern merke ich, wie großzügig ich mit ihren “Defiziten” umgehe. Und wie viel mehr Zeit ich ihnen fürs Lernen gebe als manch einer aus unserem Umfeld. Damit meine ich nicht nur ErzieherInnen und ÄrztInnen, auch Nachbarn und verwandte Tanten. Dabei stelle ich fest, dass ich manchmal genau richtig liege und sich die Dinge zurechtruckeln, manchmal ist es aber auch gut gewesen, nicht weiter zugeschaut zu haben. Der beste Seismograf fürs Navigieren, war mir dabei meist mein Gefühl. Vor allem dafür, wann der richtige Zeitpunkt zum Eingreifen gekommen war. Ich glaube, wenn man offen ist und versucht, die eigenen Wahrnehmung mit der Realität immer wieder abzugleichen, kann eigentlich nicht so viel schief gehen.

    
LG Silke


    P.S. Magst du uns noch verraten, wie lange die Therapie zurückliegt?

  • Liebe Silke,


    K2 meint, er sei Anfang der vierten Klasse gewesen, als es endete – jetzt ist er in der 7.


    Übrigens hat wohl letztens eine Lehrerin gemeint, so unleserlich sei seine Schrift doch gar nicht. 
Das mit dem Laufen-Lassen und der Reaktion der Umwelt darauf – ja, das ist ein heißes Thema. Meine Kinder haben z. B. keinerlei Bedarf an kieferorthopädischer Therapie – nix ist auch nur ein bisschen schief oder krumm. Was für ein Glück, denn wie viele Jugendlich laufen mit Zahnspangen unterschiedlichster Couleur rum, ohne dass zumindest nach meiner Wahrnehmung da vorher was gewesen wäre, das es notwendig machte. Nun schau ich den Kindern ja nicht regelmäßig in den Mund – ich kann auch schief liegen (sic!); mein Eindruck ist dabei jedoch, dass jede mögliche Normabweichung gleich behandelt wird. Und deshalb mal echt als Laie: Es kann doch nicht sein, dass sich seit meiner Kindheit die Zahl der wirklich korrigierungsbedürftigen Kiefer in solchem Maße multipliziert hat?


    Für Romanschreiber wird es, überspitzt ausgedrückt, schwierig werden, optisch auffällige Charaktere glaubhaft zu machen, wenn jede kleine körperliche Abweichung wegtherapiert wird; nix Unter- oder Oberbiss oder eine kleine Asymmetrie in der Erscheinung, weil mans ja in der Realität gar nicht mehr zu sehen bekommt…

    
Was ich von Ergotherapie, um mal wieder zum Thema zu kommen, mitbekommen und erfahren habe, das ist eine sehr vielfältige und gute Geschichte für eine Vielzahl von “Beschwerdebildern”; ich denke, das macht die Vermittlung auch so schwierig, weil Du nicht sagen kannst: Das und das ist Ergotherapie – weil es eben auch was ganz anderes sein kann.

    
Also reichlich Stoff für Dein Blog und andere engagierte MitstreiterInnen. Viel Erfolg!

  • Liebe Silke, 
zu deiner Frage:

    
“Mich würde mal interessieren, ob sich das nicht mittlerweile im großen Stil geändert hat.”

    Eigentlich müsste es das ja. Genügend Instrumente zumindest stehen dafür zur Verfügung. Die Frage ist natürlich, wie sehr sie genutzt werden. Und wenn nicht, woran das dann liegt.


    An den Ausbildungsstandards? Der Anleitung in den ersten Berufsjahren? Der Fortbildungskultur? Weil es an genügend öffentlich wahrnehmbaren Vorbildern fehlt?”


    Da wären jetzt die wissenschafltich arbeitenden KollegInnen aufgerufen. Die Umstände und Auswirkungen des Paradigmenwechsels sind so komplex, dass man da wirklich eine flächendeckede Bestandsaufnahme und Auswertung machen muß, um herauszufinden, was sich in welchem Umfang verändert hat bzw. noch verändern wird. 
Ich bin Mitglied zweier Arbeitsgemeinschaften, in denen wir u.a. dieses Thema bearbeiten. 
Unser Fazit bisher: Es fehlt an praktischen Vorbildern, Theorie und am Willen. 
Oder anders ausgedrückt: für einen umfassenden Wechsel sind entsprechende neue Therapieroutinen, Theorie und echte Motivation gefragt. 
Der letzte Punkt ist dabei der schwierigste, denn er hat mit der beruflichen Identität und auch mit eigenen, mehr oder minder unreflektierten, eher egozentrischen Bedürfnissen zu tun. Und da der von außen herangetragene und auch häufig von diesen sehr verinnerlichte Anspruch an psychosoziale Dienstleister Selbstlosigkeit ist, kollidiert hier schnell was. 
Die Veränderung betrifft das gesamte Medizin- und Therapiewesen und sie vollzieht sich innerhalb unserer Berufsgruppe genauso wie in anderen. Die Frage ist nur wie schnell und wie professionell. Wer hier als Erster nachhaltige und praktische Veränderungen etabliert, wird große Vorteile haben. 
Aber: wir sind dran. 
Ich darf in diesem Zusammenhang schon mal drauf aufmerksam machen, dass ich zusammen mit meinen MitstreiterInnen für den DVE-Kongress 2013 in Kassel zu diesem Thema etwas plane. 
Sofern unsere Abstracts ausgewählt werden… 

    Grüße von 
Angelika Oetken, Ergotherapeutin, Berlin-Köpenick

  • Danke für deine Einschätzung, liebe Angelika. Dass am Paradigmenwechsel fleißig gearbeitet wird, habe ich erwartet und bin froh zu hören, dass nicht nur die Verbände, sondern auch andere Gruppen und Grüppchen da mitmischen. Je mehr, desto besser, würde ich denken.
Die Frage nach dem Status quo ist ja nie ganz so einfach zu beantworten. Aber ich bin doch immer wieder erstaunt, wenn ich höre, wie tief die Kluft zwischen Theorie und Praxis ist. Ich glaube, die Praktiker fühlen sich oft gegängelt und sind misstrauisch, was die “Studierten” (Anm.: Zitat) wieder neues fordern. Deshalb umso besser, wenn möglichst viele Praktiker sich in dieser Richtung öffentlich zu Wort melden.


    Und was die Motivation betrifft: Da geht es den Menschen wie den Leut. Der Wille zur Veränderung ist ein zartes Pflänzchen und muss immer wieder gegossen werden, wenn ein stattlicher Baum draus werden soll.  
Die gesundheitspolitischen Veränderungen, die durch das neue Versorgungsstrukturgesetz in Gang gekommen sind, deuten ganz klar darauf hin, dass Evidenz eine immer größere Rolle spielen wird, auch und gerade in den Heilberufen. Durch die Verordnungszuwächse der letzten Jahre werden die Bemühungen zunehmen, nicht wirksame Therapien zu reglementieren, um Geld einzusparen. Es ist also nicht so, dass man ewig Zeit hätte, die Wirksamkeit der therapeutischen Maßnahmen nachzuweisen. Das wird schon bald eine immer größere Rolle spielen. Und zwar ziemlich handfest, nach meiner Einschätzung.

    Die Idee, dass das IQWIG auch Therapieverfahren auf Nutzen und Wirksamkeit überprüfen soll, ist dabei nur ein Mosaiksteinchen. Die geplante Überarbeitung des Heilmittelkatalogs und seine Ausrichtung auf evidenzabsierte Therapien, ein anderes. Und es gibt noch mehr Zeichen dafür, dass die Zeit knapp werden könnte, wenn man nicht jetzt schon anfängt, darüber nachzudenken, wie man die Wirksamkeit der in der eigenen Praxis durchgeführten Therapien nachweisen kann. Ohne dabei schwarzmalen zu wollen: Die Politik scheint schon auf dem Sprung zu sein in Richtung: Gezahlt wird nur, wenn’s auch wirklich hilft.

  • Liebe Heike,

    
danke noch mal für deine Offenheit. Das ist hier auf sehr großes Interesse gestoßen. Auch wenn sich nur eine Therapeutin zu Wort gemeldet hat, es haben hier sehr viele mitgelesen. Seit Erscheinen ist der Artikel 600-mal angeklickt worden und führt nun die Hitliste der Artikel an. 
Für dein mittlerweile recht leserlich schreibendes Kind ohne Zahnklammern alles Gute!


    LG Silke

  • So, lange gebrütet, immer zu wenig Zeit gehabt und alles auf die Feiertage geschoben – aber etwas möchte ich zu der Thematik jetzt auch gerne loswerden…und jetzt habe ich auch endlich mal die Zeit dazu:


    Ich bin schwer beeindruckt, erstens vom Beitrag selbst, und zweitens vom Standpunkt, den Angelika Oetken hier vertritt – denn das muss man sich mal öffentlich trauen: das Wesen der Ergotherapie…sehr spannend, und so groß scheinen die Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland (abgesehen von Heilmittelbudget und G8) grundsätzlich nicht zu sein.

    
Mir fällt spontan die Geschichte einer ehemaligen Arbeitskollegin ein, deren Kind aufgrund einer minimalen Cerebralparese jahrelang [sic!] in ergotherapeutischer Behandlung war, jene Kollegin war ganz begeistert, dass in zwei Jahren in keiner Therapieeinheit dasselbe wie in der vorangehenden “gemacht” wurde – schön, aber auch hier drängt sich die Frage auf: Was wurde denn eigentlich gemacht? Und mit welchem Ziel? Und mit welchem Outcome? Darüber gab es leider nichts zu berichten, obwohl das Kind definitiv Spaß bei der Sache hatte…

    
Mir selbst ist auch nicht ganz klar, wie man auf einen Wirkungsnachweis der eigenen Tätigkeit verzichten kann, allerdings kommen dann gleich hundert andere Dinge zum Tragen: strukturelle Rahmenbedingungen, Wissensstand der Allgemeinbevölkerung, der Umstand dass pädiatrische Ergotherapie in der Freiberuflichkeit m.E. nach ein sicheres Grundeinkommen bedeutet (zumindest in Österreich), die (gefühlt) schlechte Verfügbarkeit von evidenzbasierten Arbeitsweisen und die Motivation sich darüber auch noch zu informieren…achachach, wenig ist das alles nicht gerade…

    
Und mit der Einbeziehung von Klientinnen und Klienten in den Therapieprozess ist es auch nicht gerade einfach: ich selbst wurde mehrmals “schief angeschaut” als ich dieses Thema zur Sprache brachte, Standardsatz: “Sie sind der Therapeut, sie werden schon wissen, was wichtig ist”


    Die angesprochene Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis wird sich m.E. nach eher verstärken, es nutzt halt nichts, wenn theoretisches Wissen zur Verfügung steht und die strukturellen Arbeitsbedingungen des täglichen Broterwerbs eine Umsetzung dieses Wissens nicht einmal ansatzweise erlauben – ich bin schon gespannt, wie sich das in der Praxisanleitung von Studierenden nach der flächendeckenden Umstellung auf Bakkalaureatsstudien niederschlagen wird.
Jedenfalls: ein spannendes Thema, ich bin schon sehr gespannt, wie sich die Dinge in dieser Richtung in nächster Zeit entwickeln werden.

    Danke nochmals für den Beitrag und die Kommentare…

  • Liebe Frau Oetken,


    vielen Dank für Ihre Einlassungen. Der von Ihnen genannte Ablauf mit der Anforderung, überprüfbare Verbesserungen zu dokumentieren, geht mE an denen, die a) nicht selber betroffen sind oder b) an Therapeutinnen/Therapeuten oder Ärztinnen/Ärzte geraten, denen die Vermittlung dieser Sachverhalte nicht liegt (gibt es), oft einfach vorbei. Besonders bei einem so vielschichtigen Konzept, wie es die Ergotherapie – nach meiner Erfahrung – ist.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern in Ihrem Engagement für eine gute, verständliche und erfolgreiche ergotherapeutische Unterstützung aller, die dessen bedürfen, von Herzen alles Gute. Nach dem, was ich hier so gelesen habe, bedarf es dazu eines langen Atems!

    
Mit den besten Wünschen und herzlichen Grüßen aus Köln

    
Heike Baller

Ergotherapie im Web

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