Ergotherapie im Web

Gastartikel: Einblicke in Aufbau und Ablauf des Son-Rise-Programms in der Praxis

Eva Maria Rucker absolvierte im Herbst 2010 die Ausbildung zur Ergotherapeutin. Mit ihren Wurzeln tief im Süden Österreichs verankert, wurde sie von ihren Flügeln über den Atlantik getragen und fand sich im Osten der Vereinigten Staaten wieder. Dort widmet sie sich seit Januar 2011 den Pflichten eines Au-pairs mit therapeutischem Know-How. Zu ihren Schützlingen zählt unter anderem ein 10-jähriger Autist (frühkindlicher Autismus) mit der Vorliebe für Kinderlieder und Straßenkreide. Das Therapieprogramm welches die speziellen Bedürfnisse und den individuellen Entwicklungsverlauf des Jungen berücksichtigt, nennt sich Son-Rise-Programm. In regelmäßigen Beiträgen wird versucht die einzigartige Geschichte dieses Verfahrens interessierten Leserinnen und Lesern näher zu bringen, alltägliche Erlebnisse sowie singuläre oder wiederkehrende Erfahrungen mit dem therapeutischen System und dem „Klienten“ schriftlich festzuhalten und spezifische Aspekte aus einem ergotherapeutischen Blickwinkel zu analysieren.  (Artikelbild von OC Gonzalez via Unsplash)

Zu Beginn dieses Artikels möchte ich festhalten, dass meine grobe Schilderung diverser Unterpunkte in keinster Weise ein professionell durchgeführtes Training oder von Experten geplante Unterrichtsstunde ersetzen will/kann/wird. In den Vordergrund möchte ich meine persönlichen Erfahrungen stellen. Möchte jemand genaueres erfahren bzw. diverse Einsteigerkurse belegen, so wende er/sie sich bitte an die Homepage des Programmes.

Während der ersten Woche meines Aufenthaltes bei der Gastfamilie wurde mir eine Mappe mit diversen Lern- und Nachschlagmaterialien überreicht. In ihr befanden sich eine Kurzzusammenfassung von Williams bisheriger Entwicklung, Zusammenfassungen vorangegangener Teammeetings, Themen- und Spielvorschläge für eventuelle Spielraumeinheiten und auch ein Überblick über die Son Rise-Grundprinzipien. Die Wichtigsten davon möchte ich in den nächsten paar Zeilen detaillierter schildern um ein solides „Verständnisfundament“ für meine noch kommenden Beiträge zu legen.

Die wichtigsten Prinzipien

 

  • Augenkontakt
  • Reaktionen
  • Kontrolle
  • „Joining“
  • Bereitschaft des Kindes
  • Aufbauprozess und Herausforderung
  • Lob

 

 

Augenkontakt

Wie viele wissen, stellt der Augenkontakt den Schlüssel zur sozialen Interaktion dar. Der Gedanke, welcher sich dahinter verbirgt ist folgender: Je mehr die Kinder die Welt mit den Augen erkunden, desto mehr lernen sie. Eine optimale Positionierung ist aus diesem Grund für Therapeutinnen und Therapeuten von enormer Wichtigkeit. Egal ob es sich um Therapiematerial oder um die Person selbst handelt, man sollte versuchen, alles auf das Augenniveau des Kindes zu adaptieren. Für mich persönlich bedeutet dies, dass wenn ich mit Papier und Buntstiften den Raum betrete und William am Boden hockt und mit dem Rücken zur Wand lehnt, dann positioniere ich meine Mitbringsel auf den Boden, innerhalb seines Blickfeldes, anstatt sie auf ein Regal oder den Tisch zu legen.

Reaktionen

Ich versuche William zu zeigen, dass auf jede Aktion seinerseits (sei sie auch noch so „nichtig“) eine Antwort meinerseits erfolgt. Durch meine Reaktionen möchte ich eine Motivation für eventuelle Interaktionen schaffen. Meiner Erfahrung nach ist die beste Methode für das Aufrechterhalten des Interesses des Kindes, die Intensität und Erscheinung meiner Reaktion zu variieren. So kippe ich beispielsweise vor lauter Überraschung aus den Schuhen (nur wenn hinter mir keine Holzblöcke oder sonstige Hindernisse liegen, die Realität ist zwar ein besserer Entertainer als ich mit meiner „Schauspielkunst“, dennoch möchte ich einen Sturz rücklings aufs Trampolin kein zweites Mal erleben, auch wenn William sich zerkugelt hat vor lauter Lachen…), springe erfreut durch den Raum oder klatsche jauchzend Applaus. Der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt.

Kontrolle

Kinder benötigen eine kontrollierbare und sichere Umgebung. Das ist einer der Gründe, warum meiner Ansicht nach, das Konzept des Spielraumes funktioniert. William fühlt sich wohl und muss sich nicht permanent durch repetitive Rituale (Hände flippen, lautes Summen, Körper hin- und herschaukeln) eine kontrollierbare Zone schaffen.

Ich möchte William helfen, sich in meiner Gegenwart sicher zu fühlen, mir zu vertrauen, mich zu respektieren und unsere Interaktionen zu genießen. Dies gelingt am besten, wenn er permanente Kontrolle über die momentane Situation besitzt. Somit vermeide ich jegliche Art von physischer Manipulation, gebe Warnungen (Hier ein Beispiel: William liebt seine Wachskreidestifte und man möchte gar nicht glauben was sich alles so als Leinwand eignet… „If you draw in books, we can’t read them anymore, so let’s draw on paper”…”We draw on paper, not on walls”…“If you draw in books/on the walls again, I have to put the crayons away”). Mit dem Aussprechen meiner Warnung bin ich aber auch gleichzeitig auf eine Abwehrreaktion seinerseits gefasst (Werfen von Wachskreiden, hektisches Kritzeln an der Wand,…) und lasse ihr ihren Raum (keine physische Manipulation). Ich bin immer bemüht adäquat auf Gestik, Mimik und vokale oder verbale Äußerungen einzugehen.

„Joining“

„Joinen“ bedeutet so viel wie „Beiwohnen“ oder „Mitmachen“. Wenn William exklusiv wird, das bedeutet, wenn er anfängt laut zu summen während er den Oberkörper vor- und zurückschaukelt oder Buchseite für Buchseite umblättert und gleichzeitig mit der Hand aufs Knie trommelt, versuche ich in meinem Möglichkeitsrahmen mitzumachen, das Kind so gut es geht in seiner Handlung und in seinem Ausdruck nachzuahmen. Was es auch entscheidet zu tun, gewinnt in diesem Moment an Wert und Wichtigkeit. In irgendeiner Art und Weise ist es erstrebenswert und aufregend, man sollte versuchen dieser Entscheidung zu vertrauen, sie zu respektieren. Gebe ich William währenddessen Distanz und Raum (rutsche eventuell etwas zurück, wenn wir beide am Boden sitzen), wird er sich wohler fühlen, ebenfalls kann Augenkontakt leichter wieder hergestellt werden.

Während des „Joinens“ versuche ich in Erfahrung zu bringen, welche Stimulation das Kind durch das Schaukeln seines Oberkörpers oder durchs Knietrommeln erhält, um dies eventuell in meiner nächsten Therapieeinheit zu berücksichtigen und solche Reize gezielt auszulösen.

Bereitschaft des Kindes

Zieht sich William zurück und wird exklusiv, versuche ich zu „joinen“ und warte auf die „Bereitschaft“ des Kindes. Diese kann sich mir in vielerlei Gestalt präsentieren. Durch einfachen Blickkontakt (mich anschauen, nicht durch mich durchschauen), eine Aufforderung (William schaut zum Regal hin und streckt die Hand aus) oder eine sonstige Demonstration von Interesse, Interaktion oder Kommunikation seinerseits. Ich übe mich in Geduld und versuche sozusagen den richtigen Moment abzuwarten, um William in „meine Welt“ und „meine Spiele“ zu locken.

Ich bin bemüht auf seine Aufforderungen einzugehen (versuche den winzigsten Hinweis eines Interesses oder Wunsches zu registrieren). Enthusiastisch biete ich, wenn nötig Alternativen an (wir malen auf Papier, nicht an der Wand… das Wasser ist für den Magen, nicht für den Fußboden, wir können aber Puzzleteile regnen lassen…) und demonstriere wie „bedienungsfreundlich“ ich, und wie gewinnbringend soziale Kontakte im Allgemeinen sein können.

Aufbauprozess und Herausforderung

Befinde ich mich mit meinem Spiel im Interessensgebiet des Kindes, so habe ich nun die Möglichkeit die Lern-, Fähigkeits- und Fertigkeitsentwicklung zu fördern, indem ich versuche diverse Anforderungen in die Interaktion miteinzubauen, sie zeitlich zu verlängern oder zu erweitern.

Genieße ich durch das Singen von „Old Mac Donald“ Williams volle Aufmerksamkeit, so kann ich ihn nach einiger Zeit bitten ein beliebiges Tier auszusuchen und darauf zu zeigen (können sich auf einem Poster an den Wänden im gesamten Zimmer verteilt befinden), es auszuschneiden, in den „Stall“ stellen, etc. (Herausforderung).

Mit jeder Anforderung erhält das Kind die Möglichkeit die Interaktion von sich aus aufzunehmen oder gegebenenfalls zu verlängern, beschließt es jedoch mich zu ignorieren ist dies kein Grund für mich aufzugeben, ich kann ja nach einiger Zeit nochmal „lästig“ sein.

Lob

Hat William nun eine meiner Herausforderungen gemeistert, ist es Zeit für das Lob und ob man es nun glaubt oder nicht, auch das Loben will gelernt sein. Dabei sollte man spezifisch sein, wenn möglich Verallgemeinerungen vermeiden und stattdessen etwas ins Detail gehen.

Wenig zielführend sind z.B. Äußerungen wie „Die Zeichnung ist aber schön“ oder „Das hast du toll gemacht“, während Aussagen wie „Wie echt doch dein Löwe aussieht, ist ja zum Fürchten“ oder „Super, wie du aufgestanden bist und die Münze in die Musikbox geworfen hast“ deutlich konkretere Informationen beinhalten.

Ebenfalls ist es hilfreich, das Lob zu variieren, unterschiedliche Formulierungen, Tonhöhen, Lautstärken und Intensitäten zu verwenden, damit es aus der Interaktion hervorsticht und das Kind merkt, dass es gelobt wird.

Autor*in

Gastartikel

Gastartikel wurden und werden von verschiedenen Personen, die meisten davon Ergotherapeut*innen, verfasst. Informationen zu den jeweiligen Verfasser*innen finden sich in der Regel im Artikel selbst.

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