Ergotherapie im Web

Kolumne: Zwei Wege kreuzen sich, nur kurz…

Wie das Leben so spielt kann das Reparieren einer Schneefräse zum Verlust eines oder mehrerer Finger führen. Saisonal bedingt finden solche Ereignisse eher im Jänner statt und sogar Pfarrer sind von so einem Schicksal nicht ausgenommen. (Artikelbild von jmettraux via Flickr: CC BY 2.0)

Ich denke gerade an Herrn K., Pfarrer einer kleinen Landgemeinde. So klein, dass der Pfarrer bei starkem Schneefall selbst Hand anlegen muss, um den Weg zur Kirche vom Schnee zu befreien. Vor zwei Monaten saß er bei mir in der Ergotherapie. Nicht im Priestergewand, nein, im weißen Krankenhausnachthemd. Deshalb wirkte Herr K. sehr „irdisch“.

Zusätzlich zierte seine rechte Hand ein dicker Verband. Darunter befanden sich nur mehr zwei Finger, die restlichen fraß eben oben erwähnte Fräse. Herr K., groß gewachsen und eloquent, betrachtete seine rechte Hand und erzählte mir von seiner letzten Predigt. Darin ging es um die Vergänglichkeit im Leben, ja sogar dieses selbst sei schlussendlich endend. Nun wären seine Finger vorausgegangen, gottgewollt. Tief vertrauend in Gottes Weitsicht und Güte gestaltete sich der erste Verbandswechsel und der Anblick der entstellten Hand als undramatisch. Kein Schweißausbruch, keine Schmerzen, keine Kreislaufzeichen, Herr K. bewegte mutig seine verbliebenen zwei Finger und halft mir beim Anlegen der Mulltupfer. Der Zeigefinger benötigte noch eine kleine Schiene zum Schutz der genähten Strecksehne, schon fertig. Hausübungen verstanden, morgen wieder Ergotherapie.

In der nächsten Einheit erschien Herr K. als Pfarrer. Das weiße Nachthemd hatte er gegen einen schwarzen Talar ausgetauscht. Stand ihm gut, denn Kleider machen Leute. Schmerzen? Keine. Schlecht geschlafen? Nein, ausgezeichnet. Alpträume, auch nicht. Wo ist die Fingerschiene, welche die Strecksehne schützt? Unnötig, hat er im Patientenzimmer gelassen.

Eine Woche später kam Herr K. ambulant in die Ergo. Er kann schon ein Messer und einen Stift halten. Ebenso gelang ihm die Segnung am Ende des Gottesdienstes, halt nur mehr mit sieben Fingern. Manchmal schauen die Leute die Hand komisch an, das sei aber nicht sein Problem. Denn Gott hat seinen Weg so bestimmt, und mit Mut und im Vertrauen, dass Gott ihn begleitet gibt er sogar schon zum Gruße die rechte Hand.

Zur gleichen Zeit teilte das Leben einer Pädagogin schlechte Karten aus. Frau S. stürzte, brach sich den kleinen Finger, dieser wurde gegipst, heilte in Verkürzung. Dadurch hing das Endgelenk des Kleinen ca. 30 Grad nach unten. Pseudo-Mallet, quasi. Zu kurzer Knochen und dadurch zu lange Sehne.

Noch dazu wurde sie von schier unerträglichen Schmerzen geplagt, der Finger war im Ganzen steif geworden, sie konnte die Hand im Alltag nicht benützen, die Hand war ein einziges Weh. Nicht nur das, denn ansehen konnte sie die Hand auch nicht. Gleichsam einer Teufelskralle verursachte ihr der Anblick des hängenden Endgelenkes Grauen, Gänsehaut, Alpträume. Der Krankenstand war mittlerweile unendlich.

Als ich Frau S. das erste Mal in der Ergotherapie behandelte erkannte ich mit geschulten Blick: Das ist ein klarer Fall für Pain Neurophysiological Education, PNE. Mein Spezialgebiet. Ich legte mich ins Zeug, sprach von zentralen und peripheren Schmerzen und darüber, dass Schmerzen im Gehirn beurteilt werden. Manchmal entstehen dabei Fake News, man kennt das von Donald Trump und Twitter. Das Gehirn dreht Tatsachen um und es entsteht ein Schmerz, der vorher nur mit einem Ziehen beurteilt worden wäre. Schmerzen werden durch viele Faktoren verstärkt, verstärkende Gedanken gilt es zu suchen und auszuschalten. So tragen Unsicherheit, Vermeidungsverhalten und Ängste zum Ansteigen der Schmerzspirale bei.

Der springende Punkt war, ich war überzeugt das Bewegung und Berührung heilt und das Üben unter der Schmerzgrenze diese allmählich nach oben verändern wird. Das hängende Endglied würde dann nicht mehr als störend empfunden werden.

Die Patientin teilte diese Überzeugung nicht. Sie war überzeugt, dass eine chirurgische Lösung her musste. Fingerknochen durchschneiden, um Millimeter verlängern, Strecksehne lösen und zack, wird der Schmerz auch verschwunden sein. Na Halleluja, schrillte es bei mir. Ich bot ihr noch einen Termin an, um das schmerzedukative Gespräch zu evaluieren. Um ihr die Möglichkeit zu geben, das heute gehörte auch mal auszuprobieren.

Siehe da, so treffen sie die Wege des Herrn K. und der Frau S.!

Frau S. sitzt gerade in der Ergotherapie und berichtet von ihrer schmerzgeplagten Hand und der Angst nie mehr als Lehrerin arbeiten zu können. Plötzlich öffnet sich langsam die Türe um einen Spalt: Zuerst sieht man nur eine Hand mit zwei Fingern, welche uns freundlich zu winkt. Danach folgt ein schwarzer Ärmel, talargewandet, danach der ganze Herr Pfarrer. Er bedankt sich herzlich, benötigt keine weiteren Termine mehr in der Ergotherapie, da er großteils schon alles schaffe. Und den anderen Teil wird er mit Gottes Hilfe auch noch schaffen. Auf Wiedersehen.

Frau S. sieht mich an, sieht mich an, sieht mich an und spricht

„Na ja, der hat ja auch was ganz anderes als ich…“

Autor*in

Andrea Moser

Andrea Moser ist Ergotherapeutin, mit langjähriger klinischer Erfahrung im Bereich Orthopädie. Sie ist sowohl in einer Klinik in Klagenfurt als auch freiberuflich als Ergotherapeutin tätig—Website

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