Ergotherapie im Web

Mini-Serie: Mikrografie bei Morbus Parkinson: Hintergründe und Ergotherapeutischer Prozess (Teil 1)

Dieser Artikel ist Teil einer Mini-Serie zu Mikrografie bei Morbus Parkinson, der zweite Teil der Serie ist unter diesem Link abrufbar und behandelt Möglichkeiten zur digitalen Erhaltung der individuellen Handschrift. (Artikelbild von Anders Nord [Archivlink] via Unsplash)

Ein paar einleitende Worte zur Handschrift im Allgemeinen

Schriftzeichen sind der Menschheit seit ca. 5.000 bis 6.000 Jahren bekannt, relativ spät also im Verlauf der Sprachentwicklung: das (verbale) Sprechen lässt sich zumindest 50.000 bis 100.000 Jahre zurückverfolgen.

Über aktuelle Entwicklungen der Handschrift, den Einfluss der Digitalisierung auf dieselbe, die Schreibkompetenzen von SchülerInnen und den „Wert“ der Handschrift, bezogen zum Beispiel auf kognitive Verarbeitungsprozesse, lässt sich sicher trefflich diskutieren, der aktuelle Stand deutet darauf hin, dass die kognitive Verarbeitung von Informationen (zum Beispiel im Rahmen von Mitschriften im Unterricht) bei handschriftlichen Notizen deutlich besser funktioniert als die tastaturbasierte Variante (Malberger, 14.04.2018).

Das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache (ein Institut an der Universität Köln, das von der Stiftung Mercator finanziert wird) kommt in einer schönen Übersichtsarbeit zum Thema „Schreiben mit der Hand vs. Schreiben auf der Tastatur“ zu einem differenzierten Bild:

  • Verbesserte Gedächtnisleistungen beim Erinnern von Geschriebenem und verbesserte Informationsverarbeitung sind, auf die – im Vergleich zur Tastatur – verringerte Schreibgeschwindigkeit zurückzuführen.
  • Bezogen auf die Auswirkungen auf Rechtschreibkompetenzen ist aktuell keine eindeutige Aussage möglich.
  • Produzierte Textmengen und die Qualität produzierter Texte sind möglicherweise beim Schreiben am Computer höher, dies wird auf eine reduzierte Auslastung des Arbeitsgedächtnisses zurückgeführt, gilt aber generell auch bei flüssigem Schreiben mit der Hand.
  • Beim Erlernen der Schrift unterstützt die Handschrift das Einprägen von Buchstabenformen mehr als das Schreiben auf der Tastatur.
  • Eine flüssige Handschrift erleichtert das Erlernen eines flüssigen Schreibens mit der Tastatur. (Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache, 2019)

Fest steht in jedem Fall: die Handschrift ist etwas zutiefst Persönliches, sie sieht bei jedem anders aus und hat auch heute noch Bedeutung.

Mikrografie: Warum und wie die Handschrift bei Morbus Parkinson betroffen ist

Die Symptomtrias Tremor-Rigor-Akinese bei Morbus Parkinson können wahrscheinlich alle ErgotherapeutInnen – unabhängig davon, ob sie im Fachbereich Neurologie tätig sind oder nicht – auch um drei Uhr morgens aufzählen, nachdem man sie gerade unsanft geweckt hat. Wer sein Wissen rasch auffrischen möchte: Wir haben auch einen schönen Grundlagenartikel zum Thema „Basiswissen bei Morbus Parkinson“ online.

Der Symptomkomplex Akinese selbst lässt sich als als Überbegriff sehen, unter dem Akinese, Bradykinese und Hypokinese zusammengefasst sind:

  • Akinese bezeichnet die verminderte Fähigkeit willkürliche Bewegungen zu initiieren,
  • Bradykinese eine Verlangsamung von Bewegungen (im Vergleich zu gesunden Personen) und
  • Hypokinese eine reduzierte Beweglichkeit.

Die Mikrografie gilt neben anderen Symptomen wie Hypomimie, Festination und Freezing beim Gehen als eine Sonderform der Akinese, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich das Schriftbild der Handschrift verändert: Diese wird im Gesamtbild kleiner (beziehungsweise hat die Tendenz dies auch innerhalb einer Zeile zu tun), verwaschener und unleserlicher (George and Hummel, 2009, S. 324). Die Mikrografie lässt sich zusätzlich in zwei Varianten, konstante Mikrografie (konstant kleine Schrift) & progrediente Mikrografie (die Schriftgröße nimmt während eines Schriftzuges ab), klassifizieren (Sporrer, 2016). Das Schriftbild wird zusätzlich von Faktoren wie Stress, Angst oder Aufregung beeinflusst (ebd.), dies gilt auch für Tremor und Rigor (George and Hummel, 2005, S. 157-158).

Anschauliche Beispiele für das Erscheinungsbild von Mikrografie lassen sich über eine Bildersuche bei Google zu Tage fördern.

Der ergotherapeutische Prozess bei Mikrografie im Rahmen von Morbus Parkinson

Füllfederhalter auf Notizbuch

Ergotherapeutische Befunderhebung

Pohl & Brüggemeier (2012, S. 48-49) nennen eine Analyse der Schrift und ein Besprechen des aktuellen Schriftbildes (und der Zufriedenheit damit) mit KlientInnen als Schritte im Befundungsprozess.

Sporrer (2016) beschreibt die Verwendung von computerunterstützten Bewegungsanalysen während des Schreibens als geeignete Vorgehensweise, besonderes Augenmerk liegt hier auf den Parametern Schreibzeit, Schreibdruck, Schreibgeschwindigkeit und -beschleunigung und Bewegungsflüssigkeit. Weiters nennt sie auch Beobachtung, bezogen auf die Ausgangsstellung beim Schreiben, den Armtransport, die isolierten Bewegungen in Hand- und Fingergelenken sowie, ebenfalls, die gemeinsame Bewertung des Schriftbildes zusammen mit KlientInnen.

Das von ihr verwendete System CSWin des MedCom-Verlags kostet aktuell (Version 2016) in einer Einzelplatzversion zwischen 1.365,00 € und 2.675,00 € und läuft auf aktuellen Windows-Betriebssystemen – dafür bietet die Applikation viele Graphen und Parameter, und die Möglichkeit Wiederholungen des Schreibvorgangs abzuspielen und wird mit einem Tablet der Firma Wacom ausgeliefert (die bei GrafikerInnen und DesignerInnen einen guten Ruf genießen) auf dem auch geschrieben wird. Eine neuere Alternative stellt möglicherweise der ErgoPen der Firma Stabilo dar1: er wird mit einem Android-Tablet, auf dem die Stabilo-App installiert werden muss, ausgeliefert und schlägt mit 739,00 € zu Buche, ohne Tablet kostet der Stift 499,00 €. Er mißt ebenfalls zahlreiche Parameter, wie Zeitdauer, Schreibdruck, Frequenz, Automationsgrad und Schreibwinkel (Stabilo International GmbH, 2018, S. 27-29). Die App selbst ist mittlerweile auch für iOS verfügbar, geschrieben wird hier auf Papier, die Messung wird alleine vom Stift durchgeführt – wir freuen uns auf Einschätzungen der Tauglichkeit des Produkts zur Handschriftanalyse bei Mikrografie im Kommentarbereich.

Ergotherapeutische Zielfindung und -formulierung

Bezogen auf Morbus Parkinson allgemein werden in der Literatur zum Beispiel Ziele wie „Selbständigkeit, Geschwindigkeit und Sicherheit bei der Durchführung von Aktivitäten erhalten und steigern“ beschrieben (George and Hummel, 2005, S. 157-158), die Zielsetzung bezogen auf die Handschrift soll (naturgemäß) zusammen mit KlientInnen erfolgen und kann zum Beispiel das Schreiben von Briefen ohne Verkrampfung der Hand beinhalten (Sporrer, 2016).

Ergotherapeutische Maßnahmen

Ja, Schreibtraining halt, ist ja ganz klar!

Ein bisschen komplizierter ist es aber doch: als „Hauptmaßnahme“ kann „Cue-gestütztes Schreibtraining“ dienen, das 1995 von Mai & Marquardt in der neurologischen Rehabilitation in München entwickelt wurde, aktuelle Publikationen greifen dieses – teilweise auch in abgewandelter Form – auf.

Beim Schreibtraining kommen hauptsächlich visuelle Cues (Hinweise) zum Einsatz, zum Beispiel in Form von liniertem oder kariertem Papier, in Form von Kreuzworträtseln oder durch das Schreiben von Wörtern, deren erster und letzter Buchstabe gleich groß sind („Stadt“, „Markt“) (George and Hummel, 2009, S. 356; Sporrer, 2016).

Weitere Maßnahme umfassen zum Beispiel (ebd.):

  • Akustische Stimulation (zum Beispiel mit einem Metronom),
  • das Umstellen der Schrift auf Druckbuchstaben,
  • das Schreiben auf einer abfallenden Fläche (Klemmbrett),
  • das Tragen von langärmeligen Kleidungsstücken um den Armtransport zu erleichtern,
  • das Schreiben am Computer (gegebenenfalls unter Verwendung der Bedienungshilfen für Tastatureingaben2, spezieller Anti-Tremor-Mäuse, s. auch Abschnitt Weblinks), und
  • Information über die Möglichkeit der Hinterlegung der Unterschrift (zum Beispiel bei der Bank, eventuell mit notarieller Beglaubigung).

Zusätzlich können Maßnahmen getroffen werden, die die Ausgangsstellung beim Schreiben verändern, die Anpassung des Schreibgeräts umfassen oder das Erlernen von Selbstübungsprogrammen zum koordinierten Bewegen der beteiligten Gelenke beinhalten (Sporrer, 2016).

Weblinks

Quellen

Weiterführende Literatur

  1. Schwan-Stabilo ist übrigens ein Konzern mit einem sehr spannenden Portfolio. Wer hätte gedacht, dass sich nicht nur Schreibgerät, sondern auch Rucksäcke und Kosmetik darunter befinden? ↩︎
  2. Die entsprechenden Funktionen stehen in der Regel auch auf Tablets oder Smartphones zur Verfügung. ↩︎

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Autor*in

Markus Kraxner

Markus Kraxner hat seine Ausbildung 2010 an der Akademie für den ergotherapeutischen Dienst des Landes Kärnten abgeschlossen. Er war mehrere Jahre im akutpsychiatrischen Setting tätig, seit 2015 arbeitet er als Hochschullehrender an der Fachhochschule Kärnten. Sein berufsbegleitendes Masterstudium hat er 2017 abgeschlossen. Den handlungs:plan hat er 2010 ins Leben gerufen und ist seitdem inhaltlich und redaktionell hauptverantwortlich für die Website. Lebenslauf | Weitere Informationen

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