Ergotherapie im Web

Musiktherapie kommt an – funktionell und emotional

Musik kann heilen. Davon ist Simone Willig, Musiktherapeutin, überzeugt. In diesem Beitrag erläutert sie, wie Musik im Allgemeinen und Musiktherapie im Speziellen das schafft. Sie arbeitet als ambulante Musiktherapeutin in dem Franchise-Unternehmen „Musik auf Rädern“ und besucht Alten- und Pflegeheime. Besonders die Arbeit mit Demenz-Patienten hat es ihr angetan. Wenn sie mit ihrem alten Grammofon und den Schellack-Platten unterm Arm auftaucht, können erstaunliche Zusammenhänge aufgedeckt werden. Denn wenn so starke emotionale Anker geworfen werden, verhakt sich schon mal der ein oder andere dicke Fisch aus Kindheitstagen daran, und das kann zu erstaunlichen Aha-Erlebnissen führen.

Simone Willig ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit ein großes Anliegen. Kein Wunder, denn sie ist tagtäglich darauf angewiesen sich mit anderen auszutauschen. Allzu oft zeigt sich die Wirkung der Musiktherapie weit über die Therapiestunde hinaus. Zur Arbeit der Ergotherapeuten gibt es mitunter starke Berührungspunkte, nicht nur weil auch hier Gesang und altes Liedgut eingesetzt wird, sondern auch, weil die Arbeit an Rhythmik und Tempo ganz konkrete Auswirkungen auf funktionelle Therapiemethoden in der Ergotherapie hat. So lassen sich z. B. ADL-Trainings durch Musiktherapie unterstützen.

Ich danke ihr deshalb herzlich, dass sie sich bereit erklärt hat, für ergo im netz ein wenig den Vorhang zu lüften und den Blick zu öffnen für das musiktherapeutische Ensemble!

Musiktherapie

Musiktherapie hat sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen Bestandteil der psychosozialen Hilfe entwickelt. Musik – als eine andere Art von Sprache – hilft, sowohl in Kontakt zu anderen Menschen als auch in Kontakt mit der eigenen Gefühlswelt und dem eigenen Körper zu kommen. Musik vermag es, die eigene Vergangenheit und kulturelle Herkunft in Erinnerung zu rufen und ein Gefühl der Verwurzelung und bleibenden Geborgenheit zu stärken. Insbesondere bei demenziell Erkrankten lassen sich durch Musik oftmals erstaunliche Ressourcen entdecken und fördern. So sind beispielsweise. Liedtexte meist bis auf die letzte Strophe problemlos reproduzierbar, was zu einer Steigerung des Selbstbewusstseins führen kann. Die mit den Liedern verknüpften Erinnerungen werden wach und können ausgetauscht werden, es entsteht eine neue Art von Kommunikation – verbal und nonverbal, mit Instrumenten gestaltet. Musik ist der Spiegel der persönlichen Identität, die im musikalischen Ausdruck ihr Gegenüber findet und stellt somit eine der stärksten identitätserhaltenden Methoden im Umgang mit Demenzkranken dar.

Musik wirkt

Musiktherapeuten benutzen Musik als ein Ausdrucks- und Kommunikationsmittel, das unmittelbar die Emotionen eines Menschen anspricht. Im Unterschied zu anderen Fachdisziplinen ermöglicht die Musiktherapie einen Raum für Empfindungen, Resonanz und Begegnung, der auch Patienten zugänglich ist, die noch nicht, nicht mehr oder nur teilweise über verbale Kommunikationswege zu erreichen sind.

Musik…

•    löst und drückt Emotionen aus

•    weckt Erinnerungen

•    ermöglicht Kontakt und Kommunikation

•    hat eine Halt gebende Struktur und geschieht in der Zeit, sie schafft Zusammenhänge in einem zusammenhangslosen Erleben

Musik als multisensorische Erfahrung ermöglicht einen Kontakt- und Dialogaufbau ohne Sprache. Über den Hörsinn werden die Patienten durch Klänge, Töne und Stimme angesprochen. Dabei kommt den verschiedenen Parametern der Musik besondere Bedeutung zu. Hier die wichtigsten im Überblick:

Rhythmus

Rhythmus ordnet die Musik und zieht so unweigerlich Aufmerksamkeit auf sich. Die Verinnerlichung des Rhythmus ist ein äußerst wichtiger Baustein zur Behandlung von sensorischen Beeinträchtigungen, da er Konzentration und Koordination positiv beeinflusst. Ein stabiler, verinnerlichter Rhythmus ist somit maßgeblich an der Strukturierung und Organisation des Körpers beteiligt, wie auch Funktionen des Körpers einem gewissen „Rhythmus“ unterliegen (Atemrhythmus, der individuelle Rhythmus des Herzschlags, Schlaf-Wach-Rhythmus, etc.)

Tempo

Das Tempo einer Musik unterstützt sensomotorische Reaktionen, beeinflusst kognitive Verarbeitungsstrategien, ist verantwortlich für Impulskontrolle, Muskeltonus und Entspannung

Melodie

Während der Rhythmus instinktive Bewegungsreaktionen hervorruft, stellt die Melodie das Emotionen weckende und unterstützende Element der Musik dar. Die Melodie zieht die Aufmerksamkeit des Gehirns auf sich, indem es den Ton „vorausahnt“. Die Melodie kann als Vorläuferin für Sprache angesehen werden und ist nonverbaler Überbringer von Gefühlen.

Musiktherapie wirkt gezielt

Musik allein ist noch keine Musiktherapie. Betrachtet man die oben angedeuteten Wirkungen, so wird schnell deutlich, welchen Einfluss Musik auf unterschiedliche körperliche wie seelische Prozesse nimmt. Dies gebietet einen verantwortungsvollen Umgang mit diesem Medium. Musik kann durch ihren hohen Aufforderungscharakter in manchen Situationen angenehm, entspannungsfördernd, ausgleichend, stimmungsaufhellend sein, in anderen Situationen jedoch völlig fehl am Platze, störend und hinderlich für die Erhaltung der Lebensqualität der Patienten. Gerade, wenn sie nicht in der Lage sind, selbstständig zu kommunizieren, dass die Musik abgeschaltet werden möge.

Musiktherapie meint vielmehr den gezielten Einsatz von Musik im Rahmen einer therapeutischen Beziehung zur Erhaltung und Förderung von körperlicher, seelischer und geistiger Gesundheit (vgl. Definition Musiktherapie der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft www.musiktherapie.de). Die Musiktherapie macht sich die verschiedenen Wirkprinzipien der Musik zunutze, sie entwickelt Kontakt und Beziehung zwischen dem Patienten und dem professionell ausgebildeten Musiktherapeuten, den Angehörigen sowie der Pflege und sie lebt von der Zusammenarbeit in einem interdisziplinären Team.

Das interdisziplinäre Orchester

Fotografie von Heike BallerDiese Zusammenarbeit von Musiktherapie, Logopädie, Ergo- und Physiotherapie trägt besonders im Bereich der Neurologie Früchte und wird dem Ziel einer umfassenden Rehabilitation für den Patienten gerecht. Musik als Medium verfügt über die Eigenschaft, auch schwerst hirngeschädigte Menschen zu erreichen. Dies gelingt ihr zum einen dadurch, dass das Gehör der Sinn ist, der am längsten funktionsfähig und damit aufnahmebereit bleibt. Zum anderen erfolgt die Wahrnehmung akustischer Reize auf basalen Stufen der neurophysiologischen Informationsverarbeitung (die Verarbeitung findet im intakten Hirnstamm statt), bedarf also nicht notwendigerweise komplexer Fähigkeiten des Gehirns.

Tanz der Neuronen

Verschiedene Parameter der Musik (Rhythmus, Metrum, Tonhöhe, etc.) stimulieren und vernetzen unterschiedliche Hirnareale. Das Hören von Musik aktiviert und nutzt verschiedene Hirnregionen zur gleichen Zeit – ebenso wie aktives Musizieren.

Musik aktiviert nachweislich emotionale Zentren im Gehirn und ist Auslöser für neuronale Reorganisationsprozesse.

Dies bestätigen auch die Forschungsarbeiten von Michael Thaut [Archivlink], eines amerikanischen Neurowissenschaftlers. Er leitet das Center for Biomedical Research in Music an der Colorado State University. Thaut fand heraus, dass Musik bestimmte Funktionen des höheren Denkens steuern und verbessern kann. Auf dieser Basis entstanden musiktherapeutische Techniken sowohl für Sprech- und Sprachtraining als auch für kognitives und sensomotorisches Training, die sich nach den Maßstäben der evidenzbasierten Medizin beschreiben und anwenden lassen. Das bedeutet, dass Musik komplexe, kognitive, affektive und sensomotorische Prozesse im Gehirn stimulieren kann, deren Funktion wiederum auf nicht musikalische Therapieansätze übertragen werden kann. So verbessern beispielsweise unscheinbare akustische Signale die Bewegungsbereitschaft des motorischen Nervensystems.

Im Spannungsfeld von Funktionalität und Emotionalität liegt die Chance der Musiktherapie, sich flexibel und individuell an die aktuelle Bedürfnislage der Patienten anzupassen. Dies spiegelt sich auch in der Unternehmensstruktur von „Musik auf Rädern“ wieder.

Musik auf Rädern

Entstanden aus einer Diplomarbeit in Münster hat sich das Unternehmen dem Markt der ambulanten Musiktherapie und der Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit angepasst und wächst seit 2003 kontinuierlich weiter. „Musik auf Rädern“ arbeitet bundesweit. Derzeit sind 20 MusiktherapeutInnen in 14 Städten unterwegs. Das Angebot erstreckt sich von Musiktherapie mit alten Menschen bis zur Musiktherapie mit Kindern und bei speziellen Krankheitsbildern. Über 15 verschiedene Behandlungskonzepte sind entstanden.

„Wir bringen Musik ins Haus“ – unter diesem Motto bringt „Musik auf Rädern“ Musik zu alten, kranken und behinderten Menschen nach Hause und in Institutionen, um die Lebensqualität für sie und den Pflegealltag zu verbessern. Musik auf Rädern sieht seine Aufgabe darin, sowohl für Patientinnen und Patienten als auch für pflegende Angehörige und Pflegekräfte eine bereichernde und hilfebringende Ergänzung zu sein. In der musiktherapeutischen Arbeit orientieren wir uns an individuellen Bedürfnissen und Wünschen. Auf kreative Weise versuchen wir, mit Musik in tiefere Schichten der Persönlichkeit zu erreichen als es oft mit Worten möglich ist.

Text: Simone Willig, Dipl.-Musiktherapeutin (FH), NMT, Psychotherapie (HPG), zertifizierte Musiktherapeutin (DMtG). Bild: Heike Rössing, Fotografin, mit freundlicher Genehmigung.

Weiterführende Literatur und Informationen

Autor*in

Silke Jäger

Silke Jäger ist Ergotherapeutin, Lektorin und Projektmanagerin und verdient ihre Brötchen als Freiberuflerin mit Texten über Rehabilitation, Therapie und Gesundheitsthemen—Website

21 Kommentare

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  • Für jemanden wie mich, der sich ein Leben ohne Musik nicht so recht vorstellen kann/mag ist dies immer ein spannendes Thema!
Ich denke auf diesem Gebiet wird sich noch viel tun. Andererseits bin ich auch etwas skeptisch für die Zukunft, gerade wenn ich mir ansehe, wie heutige Generationen Musik hauptsächlich nebenbei als Dauerhintergrundbeschallung konsumieren – wie und womit erreicht man die dann noch?


    Auch wenn ich mir vorstelle, dass mich jemand mit einer Ziehharmonika therapieren wollte… so bezaubernd die Dame auf dem Foto auch aussieht, aber das verursacht Panik bei mir!



    Aber wieder etwas ernsthafter – was ich mir oft gedacht habe…
Wie steht es eigentlich mit “Sounddesign” im Bereich von Gesundheitseinrichtungen? Gerade in Langezeiteinrichtungen wie Rehab-Kliniken, Pflegeheimen, aber auch in allgemeinen Krankenhäusern bis hin zu Intensivstationen?


    Ich weiß, dass es Ansätze dazu gibt und ich weiß von Intensivstationen (z.B. am AKH Wien) die gezielt in diese Richtung arbeiten – gerade eine Intensivstation ist eine sehr lärmende Einrichtung und gleichzeitig bräuchten viele Patienten dort absolute Ruhe und Entspannung.

    
Da gibt es vereinzelt Ansätze die mit Musik arbeiten um den Patienten eine solche Atmosphäre zu vermitteln.
 Gibt es auf diesem Gebiet schon Fortschritte?

    
Und wie steht es mit der Forschung im Bereich der tonalen Subfrequenzen?


    Manche dieser Frequenzen sollen ja einen ähnlichen hirnphysiologischen Effekt haben wie z.B. die Meditation.
Gibt es hier schon neue Erkenntnisse bzw. Einsatzmöglichkeiten, über die man nachdenkt?

    
Vielleicht wäre es der Autorin möglich in einem Kommentar darauf zu antworten…?


    Danke!

  • Andererseits bin ich auch etwas skeptisch für die Zukunft, gerade wenn ich mir ansehe, wie heutige Generationen Musik hauptsächlich nebenbei als Dauerhintergrundbeschallung konsumieren – wie und womit erreicht man die dann noch?



    Eine gute Frage, vor allem wenn man den Prognosen glaubt, die für die Dauerbeschallten eine frühe Schwerhörigkeit voraussagen. Das wirft noch ganz andere Probleme auf!

    
dass mich jemand mit einer Ziehharmonika therapieren wollte… so bezaubernd die Dame auf dem Foto auch aussieht, aber das verursacht Panik bei mir!



    Tststs, to! Ziehharmonika? Welches Bild siehst du denn? Bei mir ist da ein anderes Instrument abgebildet (psst: Akkordeon, falls mal wieder jemand fragt  ) Und ich bin mir sicher, dass bei dir weder die Ziehharmonika noch das Akkordeon eingesetzt werden! Vielleicht verrätst du uns deinen Musikgeschmack, dann kann man schon mal die richtigen Platten zurechtlegen.  
Deine Fragen zu Sounddesign finde ich spannend, aber mir verursacht der Gedanke daran ehrlich gesagt ein ähnliches Gefühl, wie bei dir die Werbung. Wenn ich mir vorstelle, ich liege darnieder und muss dann Entspannungsmusik hören, könnte ich mir vorstellen, dass das bei mir eher paradoxe Wirkungen hat. Da müssten die Designer schon mit unhörbaren Frequenzen arbeiten. Aber ich glaube, darauf wolltest du ja sowieso eher hinaus, nicht wahr? Leider weiß ich selbst dazu nichts, aber vielleicht Simone? (winkewinke)

  • Danke für den charmant-„bezaubernden“ Kommentar zum Foto…

    Ts,ts,ts…Ziehharmonika…auch ich bin entsetzt…Akkordeon heißt es, aber das haben wir ja schon geklärt. Mit Ihrem wichtigen Hinweis auf eine mögliche „Panikattacke“ treffen Sie allerdings den Nagel auf den Kopf. “Musik wird oft nicht schön empfunden, da sie mit Geräusch verbunden”-das Zitat von Busch kennt jeder, und es hat nichts von seiner Aktualität verloren. Die musikalische Biographie ist eine höchst individuelle Angelegenheit, jeder Mensch besitzt eine, auch der, der niemals in einem Gesangverein war oder ein Instrument erlernt hat oder sich gern als „unmusikalisch“ bezeichnet. Es geht in diesem Kontext immer um die Frage, welche Stimmungen und Gefühle sind an die akustischen Eindrücke geknüpft?

    Es gibt Menschen, die können zu Heavy-Metal ganz wunderbar entspannen und schlafen dabei ein, anderen rollen sich die Zehennägel auf . Musik lässt sich nicht wie ein Medikament verordnen (ach, was wären wir Musiktherapeuten reich, hätten sich die Ideen aus der „Musikalischen Hausapotheke“ durchgesetzt und bei jedem Menschen würde Bachs Toccata Liebeskummer bekämpfen…), weil sie zwar einerseits kulturelle Verbindungen schafft, jedoch die Bedeutungen für den einzelnen völlig unterschiedlich ist…ein Geheimnis der Musik, das sie nicht preisgibt?

    
Aus der Säuglingsforschung wissen wir, dass Babys in der Lage sind, die Stimme der Mutter unter 100 anderen Frauen herauszufiltern, indem sie sie an ihrer Stimm-Melodie erkennen. Von der Mutter mit einem Lied zu Bett gebracht zu werden, die dabei erlebten Empfindungen können sich wie ein unsichtbarer roter Faden durch die Lebensgeschichte ziehen. Die Verarbeitung von akustischen Eindrücken (und dazu—bleiben wir bei der Biographie der heute alten Menschen—zählen bspw. auch Sirenengeheul, Bombenhagel…) findet im lymbischen System statt, dem „ältesten“ Teil des Gehirns, das auch für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist.

    
Als ich mit meiner musiktherapeutischen Arbeit vor elf Jahren begonnen habe, bestand mein Arbeitsalltag zunächst darin, den „Aus“-Knopf an Radios, CD-Playern und Fernsehern zu suchen und mit meinen Patienten Stille zu teilen. Im Kontakt mit meinen Altenpflegeschülern merke ich leider immer wieder, dass es an Einfühlungsvermögen mangelt, was eine-oftmals aus einem Ohnmachts- oder Hilflosigkeitsgefühl heraus entwickelte-Dauerbeschallung mit Popsongs von heute mit einem alten, bettlägerigen Menschen macht. In Teamsitzungen wundert man sich über „plötzliches“ Fieber, hohen Muskeltonus und hohen Blutdruck bei einem jungen Wachkomapatienten, den man über zwei Stunden Technobeats „ausgesetzt“ hat, weil er „sie doch früher so gerne hatte“.


    Lang anhaltende akustische Phänomene (wie die Dauerberieselung durch Hintergrundmusik) werden mit der Zeit aus dem Wahrnehmungszusammenhang herausgefiltert (Abstumpfung). Unter dem Kapitel „Flucht, Kampf, Totstellen-Reaktionen auf akustische Belastung“ finden Sie dazu umfangreiche weiterführende Gedanken im Buch „Musik-Demenz-Begegnung“, Autoren Muthesius, Sonntag, Warme, Falk, Mabuse Verlag. 
Es mangelt so lange an Einfühlungsvermögen, bis die Musiktherapeutin die „Panikattacke“ provoziert, indem sie ihre Schüler ins Pflegebett packt, mit Türen, Schubladen, Fenstern knallt, zum Akkordeon und zur Heino-CD greift, um dann den Raum zu verlassen, während verschiedene Monitore verschiedene Alarmzeichen von sich geben.

    
Es ist Aufgabe der Musiktherapeuten, sich für einen verantwortungsvollen Umgang mit Musik im Pflegealltag einzusetzen, sensibel dafür zu machen, dass und wie Musik wirkt, wenn sie vermeintlich nicht wirkt. Ganz schlimm in diesem Kontext auch die versteckten Lautsprecher in der Wand, wie sie in vielen Krankenhäusern zu finden sind: Was mag ein dementer Mensch empfinden, wenn plötzlich eine Stimme aus dem Nichts zu ihm spricht: „Frau Müller, bitte ins Geschäftszimmer“…
…und darüber hinaus für den Einsatz von Musik zu motivieren, um bspw. der musikalischen Biographie des einzelnen Rechnung zu tragen….und das vertraute Ritual des Wiegenliedes am Bett wieder aufleben zu lassen…
Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren erklären zu können, was bei der Verarbeitung akustischer Reize passiert, ist noch eine sehr junge Disziplin, die zwar derzeit mit großem Eifer beforscht wird (vielleicht finden Sie Hinweise auf die Frage nach den „tonalen Subfrequenzen“ bei Michael Thaut, Colorado State University), bis deren Erkenntnisse in der Praxis ankommen, scheint es aber noch ein weiter Weg zu sein.

  • Haha – erwischt… Akkordeon, gut.


    Da sieht man mal wieder, das eine tiefe Abneigung ignorant und dumm macht.

    

Genau – Entspannungs- und Meditationsmusik fällt bei mir mal nicht unter “Sounddesign” und hätte ebenfalls paradoxe Wirkungen und würde eine reversible Tachykardie auslösen! 
Ja, jegliche Zwangsbeglückung ist äußerst kritisch zu betrachten, allerdings – was im medizinisch-therapeutischen Bereich ist denn nicht mehr oder weniger “Zwangsbeglückung”???


    Was dann wieder zu der Frage führt – wo sind den die mündigen Patienten? Und wollen wir die überhaupt? Zu oft habe ich gesehen, dass Menschen, die lieber “mündigerweise” zu “alternativen Therapien” tendierten in der absoluten Katastrophe gelandet sind.
 Daran schließt sich dann gleich die Frage nach dem mündigen Medienkonsumenten an. Gibt es die denn???

    Und wenn wir schon dabei sind – wie viel an “Mündigkeit” ist in unserer zunehmend komplexer werdenden Welt überhaupt noch möglich?
 Heiße Themen!


    Daher verstehe ich die Frage nach dem Sounddesign auch nicht im Sinne von Zwangsbeschallung mit irgendeiner Musik, sondern wirklich eher im unhörbaren Bereich, bzw. darin div. Frequenzen mit anderen Frequenzen zu neutralisieren – ich denke dabei konkret an Maschinengeräusche, Klimaanlagen etc. auf div. Stationen in Krankenhäusern usw. und auch an die Wirkung von subfrequenten Basstönen, welchen man ja nachsagt, dass sie ein konkrete Wirkung hätten. Wäre da z.B. ein Einsatz in neurologischen/psychosomatischen/psychiatrischen Fällen möglich um z.B. den Einsatz von Medikamenten, wie Antidepressiva, zu minimieren? Quasi ähnlich der oft eingesetzten Lichttherapie?

    
Ich winke dann mal heftig mit!!!

  • http://de.wikipedia.org/wiki/Ziehharmonika

    http://de.wikipedia.org/wiki/Akkordeon

    
Also da steht, dass für uns Österreicher, Akkordeon gleich Ziehharmonika ist. Wogegen die Deutschen eigentlich nur mehr den prosaischen Ausdruck Handzuginstrument verwenden dürften…
???


    “Regional gibt es sprachliche Unterschiede in der Benennung, grob kann gesagt werden, dass in Österreich Harmonika tatsächlich für das Akkordeon Verwendung findet, häufig aber auch als Kurzbezeichnung für die Steirische Harmonika, oft auch in der Form von Ziehharmonika.”

    
Meine Güte, meine Güte… darf ich mir den Angstschweiß jetzt wieder von der Stirn wischen?

  • @to: Da kann man mal sehen, welche Tücken die deutsche Sprache bereit hält! Fies, fies. da wäre ich ja nie drauf gekommen, dass es im Österreichischen auch false friends gibt. Hab ich mal wieder was dazugelernt. Danke für die Aufklärung!


    Jetzt hab ich auch verstanden, was du mit Sounddesign meinst. Störgeräusche neutralisieren! Das halte ich für eine humanitär wichtige Angelegenheit. Da bin ich mal gespannt, wann der intensiv betreute Kassenpatient davon profitiert!


    @Simone: Danke für deine spannenden Erklärungen. Dein Szenario vom überbeschallten Patienten ist echt plastisch! Da kann jede/r mal überlegen, wo er selbst schon abgestumpft ist. Das hilft bestimmt, sich dann auch besser in die Patienten einzufühlen.

  • Ich wink auch mal kräftig zurück  – auch bis nach Österreich  – und freu mich sehr über die vielen spannenden Anregungen und Fragestellungen mit Akkordeon und ohne…(Harmonika wird bei uns häufig mit den in Russland bekannten Knopfakkordeons gleichgesetzt)…was allein die Musikinstrumente an Erinnerungen, Emotionen und Assoziationen auslösen können, wäre fast einen weiteren Gastbeitrag wert…


    Diskussionen rund um die “Vertreibung der Stille” (siehe gleichnamiges Buch) ist wahrlich ein heißes Thema…und eine never ending story! 
Die Frage nach der Neutralisation von Störgeräuschen finde ich extrem spannend…ob ihr schon jemand nachgegangen ist und/oder es Publikationen gibt…I don`t have a clou! Vielleicht erweitern wir das Winken, und es finden sich noch Kollegen, die dazu eine Stellungnahme abgeben können und wollen.

    Im Bereich der Demenzforschung gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Musiktherapie (und besonders die Auseinandersetzung mit biographisch bedeutsamer Musik) als nicht-medikamentöse Therapie positive Effekte auf Agitiertheit und Aggressivität nehmen kann, da sowohl kognitive, wie auch motorische und psychische Aspekte gezielt therapeutisch gefördert werden können (vgl. S3 Leitlinien Demenz-online Ausgabe der Ärztezeitung vom 01.12.2009).

  • Huch – herzlichen Dank an alle für die ausführlichen Antworten!! 
Und vielleicht könnten wir das mit den Handzuginstrumenten einfach… ähhh… vergessen? 
Die Antworten hier geben mir schon einmal viele interessante Anregungen!

    
Zur Dauerberieselung via Hintergrundmusik hätte ich da noch eine Frage – das Herausfiltern aus der Wahrnehmungsebene gilt dann aber “nur” für die bewusste Ebene, auf unbewusster Ebene entfaltet sich die Wirkung ja trotzdem, oder tritt auch hier der Filter in Kraft (was mich überraschen würde)?
 Und über die unbewusste Ebene kommt es ja dann ebenso zu den neurophysiologischen Reaktionen…
Die Neutralisation von Störgeräuschen wäre meiner Meinung nach ein hochspannender und wichtiger Ansatzpunkt, gerade auf z.B. Intensivstationen, aber auch für alle Patienten, welche selber nicht in der Lage sind, aktiv etwas an ihrer akustischen Umgebung zu ändern…

    
Ausgehend von diesem Artikel hier: http://derStandard.at/3272674 – in dem beschrieben wird, wie Patienten auf einer Intensivstation zweimal die Woche Musiktherapie erhalten, habe ich mich dann gefragt, was denn die restliche Zeit so passiert. 
Ich meine – gerade eine Intensivstation ist LAUT! richtig laut, vor allem, wenn man den ganzen Tag und die ganze Nacht nichts anderes tun kann als daliegen und auf die Decke zu starren.

    Und ich meine gar nicht das Piepsen und Alarmieren von Monitoren und sonstigen Geräten, sondern das ständige Brummen und Summen von Motoren, Lüftern, Klimaanlagen und ähnlichen Gerätschaften…
Da sollte es doch zumindest theoretisch möglich sein, diese kontinuierlichen Hintergrundgeräusche in ihren Frequenzen auszumessen und mit anderen Frequenzen Überlagerungen zu schaffen, welche erstere neutralisieren, oder zumindest stark abschwächen würden.
 Ich könnte mir gut vorstellen, dass dies eine große Erleichterung für diese Patienten wäre.


    Aber an dieser Stelle vorerst nochmals ein großes Danke für die bisherigen ausführlichen Antworten!

  • Sehr richtig beobachtet, to! Dass Musik/akustische Eindrücke einen unmittelbaren und “unbewussten” Ankoppelungseffekt hat/haben, machen sich ja nicht zuletzt andere “Disziplinen” schon lange zu nutze (Musik in der Werbung, Musik im Kaufhaus, Musik als Propagandamittel…)
Wahrzunehmen, wie laut es ist, wenn`s leise ist, steckt noch in den Kinderschuhen.

    Ich weiß nicht, ob es darum geht, die Geräusche zu neutralisieren und alle Geräusche der Betriebsamkeit einer Intensivstation abzuschwächen, sie sind Teil der dort herrschenden Realität. Viel wichtiger als das “in Watte packen” ist in meinen Augen die Entwicklung von Achtsamkeit für das akustische Milieu und damit die Minimierung der akustischen Stressfaktoren. Wer einmal das Aufatmen von Wachkomapatienten beim Ausschalten des Radios wahrgenommen hat (und eine Verbindung zwischen dem Ausschalten und dem Aufatmer entdeckt…), wird hoffentlich langsam sensibilisiert, sich noch weiter mit dem akustischen Milieu zu befassen….


    Ein frommer Wunsch…und eine große Aufgabe für die Musiktherapie…

  • Tolle Diskussion hier!
Besonders gut gefällt mir, dass hier Dinge zur Sprache kommen, die für selbstbestimmtes Leben enorm wichtig sind und die eigentlich so einfach zu handeln wären, wenn jeder, der anderen assistiert, dafür sein Bewusstsein schärfen würde. Damit wird auch deutlich, was mit “verantwortungsvoller Umgang mit Musik” gemeint ist. Dass es schon viel früher anfängt, nämlich mit den Alltagsgeräuschen bzw. Umgebungsgeräuschen ist schon erstaunlich. Geräusche sind auch eine Art von Umweltverschmutzung, wird mir gerade klar.

  • Tolle Diskussion hier!


    
In der Tat, in der Tat, was am Wochenende so alles passiert…musiktheoretisch kann ich leider kaum etwas beitragen, aber hierzu

    
Es mangelt so lange an Einfühlungsvermögen, bis die Musiktherapeutin die „Panikattacke“ provoziert, indem sie ihre Schüler ins Pflegebett packt, mit Türen, Schubladen, Fenstern knallt, zum Akkordeon und zur Heino-CD greift, um dann den Raum zu verlassen, während verschiedene Monitore verschiedene Alarmzeichen von sich geben

    

fiel mir gerade wieder eine Unterrichtseinheit aus meiner – lange zurückliegenden – Zeit als Krankenpflegeschüler ein, in der wir alle mit geschlossenen am Boden liegen mussten, während zwei Lehrpersonen im Raum wüste Geräuschorgien veranstalteten und ihre Privatangelegenheiten besprachen (das war rückwirkend betrachtet übrigens sehr nahe an der tatsächlichen Praxis) – sicherlich eines der beängstigenderen Erlebnisse während dieser Ausbildung…


    Der Lärmpegel auf Intensivstationen ist wirklich enorm – eine ständige Belastung, nicht nur für Patientinnen und Patienten sondern auch für das diensthabende Personal – wer das noch nicht selbst erlebt hat, kann sich ja einmal fünfzehn verschiedene Wecker stellen, die zu völlig unvorhersehbaren Zeiten klingeln und eine sofortige Reaktion erfordern – das kommt dem schon recht nahe…und wenn dann noch der Radio den ganzen Tag läuft (eher für die Mitarbeiter als für die Patientinnen und Patienten, frei nach dem Motto “Swing, when you’re working”) dann wird’s mit der Lärmverschmutzung echt wild.

    
Und ja, in Österreich gibt es sie noch, die als ausgestorben geführte Ziehharmonika – ich hatte gerade mit einem Klienten zu tun, in dem wir das Instrument als alltagsnahes Koordinationstraining nach einem Schlaganfall für den linken Arm sehr erfolgreich eingesetzt haben.

  • @Simone:
 Mir geht es bei meinem Gedankenansatz weniger darum, die Realität auf einer Intensivstation zu verbiegen und jemanden “in Watte zu packen”, als darum die Situation erträglicher zu machen. 
Erzeugt den nicht ganz besonders eine Intensivstation eine Art von “künstlicher Realität” für die Patienten und zwingt diese dazu in selbiger zu existieren? Wäre es dann denn nicht auch die Aufgabe derer, welcher diese Realität schaffen, dafür zu sorgen, dass diese erträglicher wird? 
Wenn also schon a priori eine besondere Art von Realität geschaffen wird, an welcher der Patient nicht freiwillig teilnimmt, wieso diese dann nicht gleich so gestalten, dass selbige erträglicher wird? 
Im Sinne einer Art von Psycho-Akkustik-Hygiene, wäre dies für mich ebenso wichtig wie das laufende Radio.


    @Markus:
 Der von dir beschriebene Weckereffekt trifft wohl eher die Mitarbeiter auf so einer Station, ich denke aber insbesondere an die ständig anhaltende, nicht abschaltbare, Lärmbelastung durch Geräte (z.B. Monarchbetten, Lüfter von Beatmungsgeräten, Klimaanlagen etc.). Meiner Meinung nach ist dies eine große Belastung und behindert den Erholungsprozess bzw. führt zu erhöhtem Medikamenteneinsatz. Den Weckereffekt kann man auch über ein vernünftiges Alarmgrenzenmanagement steuern, die ständigen Hintergrundgeräusche nicht.


    @Silke: 
“Selbstbestimmes Leben” ist ein sehr weitgefasster und dehnbarer Begriff und irgendwie muss man wohl zugeben, dass es großteils eine Illusion ist und bleibt. Was aber nicht bedeutet, dass man nicht das Bewusstsein für Manipulation per se erhöhen kann und soll.
 Ist denn nicht gerade im Gesundheitsbereich die Manipulation der Patienten/Klienten das Hauptinstrument? Egal ob Musiktherapie, Ergotherapie… bis hin zur Intensivtherapie – stets läuft es auf eine Manipulation des Patienten durch diverse Therapeuten hinaus.
 Die Frage dabei ist, denke ich, wie bewusst wird dem Patienten/Klienten diese Manipulation gemacht? In wie weit wird er aufgeklärt und eingebunden und auf ihn eingegangen? 
Natürlich wird je nach Situation mehr oder weniger Aufklärung möglich sein, aber prinzipiell stellt sich diese Frage doch bei jeder Interaktion mit Patienten/Klienten.


    Desto höher nun das Bewusstsein für Manipulation und selbstbestimmtes Leben beim Therapeuten ist, desto eher und umfassender wird er auch auf den Patienten/Klienten eingehen können und wollen.
 Und wenn ich mir den Podcast mit Anne Fisher am handlungs:plan vor Augen halte, wird wieder klar in welchem hohem Ausmaß die Ergotherapie auf “Manipulation” beruht und wie wichtig es ist den Patienten aktiv und selbstbestimmend mit einzubeziehen, ein Prozess, welcher bestimmt um so reibungsloser abläuft, desto höher das Bewusstsein beim Therapeuten ist. Dies soll jedoch nur ein Beispiel sein und gilt bestimmt ebenso für alle anderen Berufsfelder im Gesundheitsbereich.

  • “Selbstbestimmes Leben” ist ein sehr weitgefasster und dehnbarer Begriff und irgendwie muss man wohl zugeben, dass es großteils eine Illusion ist und bleibt. Was aber nicht bedeutet, dass man nicht das Bewusstsein für Manipulation per se erhöhen kann und soll.

    

Ja, vor allem, wenn man als Patient in ein Krankenhaus geht, muss man sich diesbezüglich auf Desillusionierung einstellen. Ich habe da ein paar persönliche Erfahrungen gemacht, schaue also gewissermaßen auch aus Patientensicht auf die Zustände. Wenn mein Bedürfnis nach aktuellen Feldstudien sich da auch in Grenzen hält, bin ich mir sicher, dass es auf Intensivstationen zunehmend hektischer wird. Und wir wissen ja alle, dass das richtig übel werden kann, nicht nur, wenn es um bewussten Umgang mit Patienten geht.

    Wobei, das will ich hier noch mal sagen, die Arbeit der Teams bewundernswert ist, auch bewundernswert gut, global betrachtet. Hier geht es ja auch eher um die Fragen: Wie kann man das Bewusstsein für die Lärmbelastung schärfen? Wie kann man durch technsche Entwicklungen gegensteuern)? Und was kann jeder Einzelne tun, damit sich nicht noch weiterer Lärmmüll (Stichwort Radio) über die Patienten ergießt?
Schon interessant, wie sich die Diskussion in diese Richtung entwickelt hat. Aber die musiktherapeutische Forschung kann bestimmt einiges zu diesem Themenfeld beitragen, oder Simone?

  • Ich finde die neuen Ansätze und Gedankengänge sehr spannend…da arbeitet noch Vieles in mir weiter. Schön zu lesen, dass die Übung aus der Ausbildungszeit von Markus so nachhaltig hängengeblieben ist…lässt mich für meine Schüler noch hoffen.

    
Die Lärmbelastung auf einer Intensivstation (und nicht nur da….gilt auch für viele Pflegestationen in Altenheimen bspw…und da LEBEN die Leute, wo hingegen die Intensivstation nur eine Durchgangsstation darstellt) ist sehr hoch. Hinzu kommen noch die oftmals notwendigen Gebäudesanierungsmaßnahmen, gebaut, gehämmert, gebohrt wird an jeder Ecke…und es stellt sich auch die Frage, ob jemand ein Auge darauf hat, wie sich Gebäudepflege und Menschenpflege gut unter einen Hut bringen lassen….bei sich selbst zuhause würde jeder versuchen, die Belastung durch Handwerker so gering wie möglich zu halten…

    
In welchem Maße die Umgebungsgeräusche (Lüftung etc.) für die Krankheitsverarbeitung zusätzlichen Stress bedeuten, darüber bin ich mir noch nicht ganz klar. Es gibt Erfahrungsberichte von Patienten, die erzählen, dass sie sich dauerhaft massiv bedroht gefühlt haben und versuchten, gegen alles und jeden anzukämpfen (Stichwort „mangelnde compliance“). Dies würde dafür sprechen, dass die Belastung (neben dem Erleben, dass mit mir etwas „nicht mehr stimmt“) hoch ist.


    Mir hat mal ein Patient erzählt, dass er gedacht habe, er sei in einer Kneipe (er machte dies an dem ständigen, nicht zu filternden Stimmengewirr und der lauten Musik-Radio fest). Spannenderweise konnte er auch 1:1 wiedergeben, was an seinem Bett über ihn gesprochen worden ist (er hat es als „lästern“ empfunden, da er die Situation in den Kneipenkontext einbettet hat). Achtsamkeit und Wertschätzung sind also meines Erachtens die Begriffe, die der Schlüssel zu vielen Situationen in diesem Zusammenhang sind…bleibt zu hoffen, dass alle im Team geschult werden/sind, den Menschen vor sich noch wahrzunehmen…und das ist ein großes ethisches Thema….ich finde es wichtig, zunächst mal bei den offensichtlichen „Störfaktoren“ anzusetzen und bspw. der Dauerbeschallung durch Radio etc. ein Ende zu machen-dann könnte man untersuchen, wie hoch der Stresspegel durch die anderen Geräusche ist.


    Was den musiktherapeutischen Kontext angeht, hier schnell noch ein paar Konzept-Sätze zum Weiterdiskutieren:
 Menschen auf einer Akutstation sind überraschend in Situationen geraten, die ihr Leben und ihre körperliche wie psychische Integrität massiv bedrohen. Durch einen Unfall, einen Schlaganfall, eine schwere Erkrankung reißt urplötzlich der bisherige Lebensfaden. Die gesamte Existenz wird schlagartig und grundlegend in Frage gestellt und der Betroffene betritt Grenzbereiche menschlichen Daseins. Der Musiktherapie gelingt es wie keiner anderen Therapieform, sich auf diese veränderte Realität des Betroffenen einzulassen und somit der erlebten Auflösung der eigenen Identität entgegenzuwirken. Musiktherapie ermöglicht:


    • Schaffen einer Atmosphäre von Geborgenheit und Sicherheit (durch Anknüpfen an vertraute akustische Erfahrungen und Eindrücke, regressive Angebote, wiederkehrende musikalische Elemente, ritualisierte Rhythmen, Melodien etc.)
    • Anbahnung von Kontakt und Dialogaufbau, Förderung von nonverbalen Kompetenzen (durch Aufgreifen von unwillkürlichen Bewegungen und Atemrhythmus des Patienten und dem Hör- und Erfahrbarmachen in der Musik, Singen und Summen im Atemrhythmus etc.)
    • Verbesserung von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit (durch mulitsensorische und vibroakustische Stimulation, körperliches Erfahrbarmachen von Klang, räumliches Orientierungstraining mit Musik)

      Anbahnung elementarer Ausdrucksmöglichkeiten (durch Aufgreifen und Verstärken willkürlicher und unwillkürlicher Signale in der Musik) 
(vgl. Indikationskatalog Musiktherapie in der neurologischen Rehabilitation, Baumann et alii)

    
Musik spricht den Betroffenen immer zu erst als Mensch an, nicht als Kranken. Musik ist Leben, sie ist etwas Lebendiges, sie ist der menschliche Ausdruck vom Leben. Gemeinsam gehörte und damit gemeinsam erlebte sowie gemeinsam gestaltete Musik in der Musiktherapie kann eine Brücke bauen zwischen dem „alten“ Lebensweg und der „neuen“ Welt und kann so eine Möglichkeit der Neuorientierung für Betroffene wie auch für das soziale Umfeld bieten. Das Erlebnis für den Betroffenen, durch die Musiktherapie weiterhin wertschätzend mit der eigenen Persönlichkeit wahrgenommen zu werden, wirkt oft motivierend und bietet Förderung und Unterstützung für weiterführende rehabilitative Maßnahmen.

  • Also, ich finde das hier eine sehr spannende Diskussion mit sehr vielen interessanten Anknüpfungspunkten! Bin ja kein Fachmensch aber ich wag es mal:

    Was mich schon oft beschäftigt hat, ist die Frage, wie man Umgebungen akustisch gestalten kann/soll, dass sie auf die Menschen, die sie bewohnen, angenehm (anregend, erholsam…) wirken bzw. was man tun kann um Umgebungen, die akustisch unangenehm wirken, zum positiven zu verändern. (Grundsätzlich gäbe es an diesem Punkt schon sehr viel Definitionsbedarf, den überspringe ich vorerst mal großzügig.

    
Eine Intensivstation fällt für mich (und wie ich gemerkt habe, nicht nur für mich) in die zweite Kategorie der akustisch unangenehmen Umgebungen. Nun gibt es Menschen, die schlafen in Wien am Gürtel bei offenem Fenster – was in mir die Frage aufwirft, wann Geräusche „stressen“ und ob man nicht sagen kann: das ist für jeden einzelnen Menschen (sehr) unterschiedlich. Grundsätzlich kann man ja sicher sagen, dass gerade viele Stadtbewohner – aber nicht mehr nur die – in einer akustisch EXTREM stressigen und irritierenden Umgebung leben. Aber was hat das für Auswirkungen darauf, was nun und künftig akustisch als akzeptabel oder stressig wahrgenommen wird? Oder, anders formuliert: wann ist eine Umgebung für eine Genesung geeignet (von ideal will ich ja gar nicht reden…)?

    Ich glaube ja, dass es (schon auch aber) weniger um’s filtern/überlagern gehen sollte, als um eine aktive Gestaltung – im visuellen und im akustischen Bereich. Aber wie gestalten? Überspitzt formuliert: für wen passt dann was?


    Zum Thema „filtern“ fällt mir auch noch was ein. Es funktioniert ja bei Handys ganz gut (Umgebungsgeräusche werden rausgefiltert – deshalb kann man beim Autofahren so gut telefonieren). Großraumbüros werden oft so gestaltet, dass jede Ameise im Hemd auch möglichst störungsfrei telefonieren und sich entfalten kann (mit und oft auch ohne typischer „cubicle“ Zwischenwand). Kurz: ich nehme mal an, dass es die Technologie also schon gibt, zumindest in Grundzügen. Nur wird sie nicht eingesetzt – glaube ich…

  • Willkommen in der Runde, lieber Mario. Hier darf jeder was sagen.

    Ich glaube ja, dass es (schon auch aber) weniger um’s filtern/überlagern gehen sollte, als um eine aktive Gestaltung – im visuellen und im akustischen Bereich. Aber wie gestalten? Überspitzt formuliert: für wen passt dann was?



    Das halte ich auch für schwierig, da man aus gewissen Sachzwängen nicht heraus kommt. Lüfter brummen nun mal und sind nun mal nötig auf Intensivstationen. Aber dennoch: Das entbindet uns nicht davon, sie möglichst leise zu machen.
Wenn die Lüfter-Industrie aber nicht weiß, dass sie leisere Lüfter bauen müsste, dann wird sie es auch nicht tun. Und wenn Krankenhausverwalter nicht wissen, dass der Genesungsprozess durch laute Lüfter aufgehalten wird, dann werden sie die billigeren und lauteren Lüfter kaufen. Auch wenn sie dafür u.U. längere Liegezeiten der Patienten bekommen. Ich denke Studien zu dieser Fragestellung wären hilfreich. Also: Welche Auswirkungen hat Lärm auf den Genesungsprozess? Die schwerer zu beantwortende Frage wird wohl sein: Was nehmen Intensivpatienten wahr? Simones Bericht über die Intensivstation als Kneipe ist ja sehr augenöffnend. Aber ich denke, da ist jeder anders gestrickt und jedes Krankheitsbild mit den dazugehörigen Medikamentengaben wird wieder spezielle Auswüchse haben.

    Das:

    
Kurz: ich nehme mal an, dass es die Technologie also schon gibt, zumindest in Grundzügen. Nur wird sie nicht eingesetzt – glaube ich…



    könnte ich mir auch vorstellen. Kennt jemand einen Medizintechniker, den man fragen könnte? Oder welche Berufsgruppe beschäftigt sich eigentlich mit dieser Fragestellung? (Am Ende sogar keine? Nein, das galube ich auch wieder nicht!) Musiktherapeuten haben ja das Wissen über die Wirkung von Tönen (seien sie auch mal unangenehm), sie könnten dementsprechend sicher als Experten der Industrie Rat geben. Oder liege ich hier völlig falsch?

  • Schön, dass meine Gedanken willkommen sind!

    
Die Forschung über die Auswirkungen von Tönen und Geräuschen fällt in die Musikforschung und hier in die Musikpsychologie und Psychoakustik – die letztere wiederum sehe ich als zentralen Übergang zur Klanggestaltung und der Schaffung von akustisch besonders gestalteten Räumen. Wenn’s da eine Schnittstelle zur Medizin gäbe, die wäre sehr spannend, glaube ich…

  • Ich bin immer noch total fasziniert von der Diskussionsrunde hier, staune vor mich hin, was für interessante Wegweiser sich hier auftun…wird sicher Zeit, dass die Musiktherapie sich hier noch stärker als “Experte” für die Wirkung von Tönen wahrnimmt. Musik und Medizin…ein weites Feld! Ich danke für die vielen tollen Anregungen, die ihr mir geliefert habt und grüble natürlich schon über diesen “Schnittstellen-Konzepten”.

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